Freitag, 01.11.2013 | 11:17 Uhr
Autor: Andreas Schröter
Über das Leben seiner schwerreichen jüdischen Familie vom Ende des 19. Jahrhunderts in Wien bis in die Gegenwart im australischen Exil erzählt Tim Bonyhady in seinem Buch „Wohllebengasse“.
Die Familie Gallia, die mit der Herstellung von Glühstrümpfen – das sind gasbetriebene Lampen – reich geworden ist, lebt zur Zeit der Jahrhundertwende mit vielen Bediensteten in einer 700 Quadratmeter großen Wohnung in der Wohllebengasse in Wien. Moriz und Hermine Gallia, die Urgroßeltern des Autors, lieben es, sich mit Kunst und Kultur zu umgeben. Sie gehen regelmäßig ins Theater und in die Oper, kaufen teure Bilder und lassen sich die Möbel und Einrichtungsgegenstände für ihre Wohnung von dem bekannten Fin-de-Siécle-Architekten Josef Hoffmann maßschneidern.
Besonders dieser erste Teil, in dem der Autor die bisweilen herrschsüchtige Familienmatrone Hermine in den Vordergrund stellt, ist für kunsthistorisch interessierte Leser ein Genuss, kommen die Gallias doch regelmäßig mit auch heute noch bekannten Kulturgrößen aus dieser Zeit wie Gustav Mahler, Carl Moll, Egon Schiele oder Gustav Klimt zusammen, der Hermine porträtiert. Dieses Bild hängt heute in der National Gallery in London. Auch die berüchtigte Alma Mahler, die allen Männern ihrer Zeit den Kopf verdreht hat, geht bei den Gallias ein und aus. Die Familie fördert die Wiener Werkstätte, einer Produktionsgemeinschaft bildender Künstler, und die Künstlervereinigung Wiener Secession.
Der zweite und dritte Teil des Buches, in denen Hermines Tochter Gretl und ihre Enkelin Annelore im Vordergrund stehen, erzählen die Flucht mitsamt riesigem Kunstschatz vor den Nazis nach Australien und den Umgang der Nachkommen, zu denen auch Hermines Urenkel, Autor Tim Bonyhady selbst zählt, mit dem Erbe und den Erinnerungen an das Vorkriegs-Wien.
Der Leser erfährt etwas über den Charakter der Familienmitglieder und ihre Beziehungen zueinander sowie über das Leben jüdischer Emigranten im Exil, und doch hat „Wohllebengasse“ ein großes Manko: Es ist bei Weitem zu detailliert. Der Autor verfällt immer wieder in abschnittlange Aufzählungen über Speisenfolgen, Theaterspielpläne oder die Kunstgegenstände, die sich in den verschiedenen Wohnungen befinden. Für Bonyhady und seine Familie mag das als Erinnerungsarbeit ja wichtig sein, den unbeteiligten Leser langweilt und nervt es sogar auf die Dauer.
Und doch bleibt „Wohllebengasse“, das auch mit zahlreichen Familienfotos bestückt ist, lesenswert. Um ein Drittel gekürzt wäre es perfekt.
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Tim Bonyhady: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie.
Zsolnay, August 2013.
448 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,90 Euro.
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