Dienstag, 04.04.2006 | 10:47 Uhr
Autor: andreaffm
Wie haben wir das vermißt! Eine veritable Feuilletondebatte! Nein, gleich zwei! Auf einmal! oder besser: So kurz hintereinander, daß man gar nicht mehr weiß, wo die eine Debatte aufhört und die andere anfängt! Hach, wie aufregend! Da gehen mir doch glatt die Ausrufezeichen durch.
Endlich, muß man fast sagen, denn ich habe mich geweigert, die sogenannte Spiralblockaffäre (die sich übrigens keine drei Kilometer von hier entfernt zutrug) ernstzunehmen, nachdem sich der Ankläger Stadelmeier nicht einmal mit sich selbst auf eine einheitliche Darstellung der Ereignisse einigen konnte. Wurde er hinausgeworfen? Ging er empört von selbst? Wir werden es wohl nie erfahren.
Dafür erfahren wir in der taz, was in Sachen Kritikerstreit los war. Das war so: Beim Deutschlandfunk gibt es eine uralte und entsprechend renommierte Literatursendung, das „Studio LCB“. LCB ist das Kürzel für das umtriebige Literarische Colloquium Berlin, in dessen Räumen jüngst Volker Weidermann sein Buch Lichtjahre vorstellte, eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute, so der Untertitel. Eigentlich eine ganz normale Buchpremiere des Verlags Kiepenheuer&Witsch, sollte man meinen.
Natürlich waren auch ein paar Kritikerkollegen eingeladen, die über dieses Buch debattieren sollten, wie das eben so üblich ist, und das ganze wurde dann auch im Deutschlandfunk gesendet. Nun ist es aber auch üblich, zu Buchpremieren eher wohlmeinende Kritikerkollegen einzuladen, die die schöne Feier nicht kaputtreden, denn die Premierenveranstaltung soll ja auch eine Art Taufe für den Autor und sein Baby sein.
Und die geladenen Kritikerkollegen, im Einzelnen: Zeit-Literaturchef Ulrich Greiner, der Leiter des Kopenhagener Goethe-Instituts Christoph Bartmann und der eigentlich zur Neutralität verpflichtete Moderator Hubert Winkels, die alle drei hielten nicht sehr hinterm Berg mit ihrer Ansicht, daß man zur Not auch so über Literatur schreiben kann, daß das aber eigentlich nicht wirklich sein muß. So wurde nicht Weidermanns literaturkritischer Scharfsinn gelobt, sondern sein Erzähltalent. Das ist schon ein bißchen gemein. Außerdem ginge Weidermann die Literatur zu biographisch an; ihre eigentliche Kernkompetenz, Sprache und Form, behandele er so nebenbei bis gar nicht, höchstens erzähle er nach. Bei 135 Autoren auf 320 Seiten ist allerdings auch nicht mehr zu leisten. Und Weidermann weist ausdrücklich darauf hin, daß ihn gerade der Mensch hinter dem Autor interessiere.
Das brachte nun den ebenfalls anwesenden Maxim Biller, seines Zeichens skandalerprobter Autor und laut Winkels „aus einer älter gewordenen Halbstarkengruppe hervortretend“, auf die Palme. „Du bist doch ein richtiges Arschloch! Einen Autor mit seinem neuen Buch fertig zu machen! Drei gegen einen. Hinterhältig und feige. Ich will darüber nicht diskutieren! Mit dir nicht!“ raunzte er Moderator Hubert Winkels an. Damit, könnte man denken, ist die Geschichte erledigt und die Kontrahenten sind quitt.
Aber es geht fröhlich weiter: Alle Kritiker haben ja so ihr Hausblatt. Und so breiteten Christoph Bartmann in der SZ und das Duo Greiner/Winkels in der ZEIT nochmal aus, was da passiert war. Denn das sei nichts weniger als eine Glaubensfrage: Emphatiker und Gnostiker seien da gegeneinander angetreten, oder, wie Gerrit Bartels in der taz meint, das Establishment sei punkrockmäßig herausgefordert worden.
Die Emphatiker, das seien laut Winkels „die Leidenschaftssimulanten und Lebensbeschwörer“, die es nicht länger ertrügen, daß „immer noch einige darauf bestehen, dass Literatur zuallererst das sprachliche Kunstwerk meint, ein klug gedachtes, bewusst gemachtes, ein formal hoch organisiertes Gebilde … „ Also die Punkrocker, sozusagen, „mit dem unbedingten Hunger nach Leben und Liebe“ und dem Autor fest im Blick.
Die Gnostiker, das Establishment oder „Haltbarkeitsfeuilleton“ (Bartels), das sind die, denen „ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen … die Gnostiker sehen erst einmal Texte und dann frühere Texte und diese auch noch in größeren Kontexten.“
Vielleicht also eine Altersfrage, vielleicht auch eine Typfrage. Auf der einen Seite also junge wilde Popper, auf der anderen die literarisch beflissenen Bleiwüstenforscher, auf der einen die KiWis, auf der anderen Suhrkamp. Natürlich geht das nicht immer so glatt auf, das gesteht auch Winkels und führt dann so rührend vergessene Beispiele an, daß ich gar nicht anders kann, als sofort zum Emphatiker wider Willen zu werden (wie auch Georg Diez in der Zeit). Der Riß nämlich, so Winkels, gehe durch die Lager selbst – also eigentlich sind das dann mehr als zwei Lager, wundere ich mich, eigentlich sind das dann vier: Emphatische Gnostiker, gnostische Gnostiker, gnostische Emphatiker und emphatische Emphatiker. Oder so. Aber auch das weiß vermutlich nur wieder Herr Winkels, der immerhin noch den Hinweis anbringt, daß es auf beiden Seiten „reißt und scheppert“.
Ich wundere mich immer noch, aber zum Ende seines Artikels schwingt sich Winkels dann nochmal auf, dieser Konflikt sei nun unbedingt innerhalb der Literatur zu lösen, und es lohne sich ja auch, es gehe um etwas: „Um unsere literarische Herkunft sowieso, aber eben auch um die neue deutsche Literatur, die so viel Interesse findet wie lange nicht. Da lohnt die Aufregung – daher kommt sie auch. Und darin steckt die Frage nach der angemessenen Lektüre der Welt selbst.“
Ich weiß ja nicht, ob meine Lektüre der Welt angemessen ist oder nicht, aber ganz bestimmt spielt sie sich weder im poppigem Entertainmentbereich ab noch im Altersheim für vergessene Avantgardisten. Also um was geht es? Um die neue deutsche Literatur? Und was schert die Eiche, wenn die Sau sich an ihr scheuert? Und Grabenkämpfe zwischen Sauen? Och nö. Die Literatur braucht die Kritiker nicht wirklich. Als Kritiker aber braucht man scheinbar eine gewisse Selbstüberschätzung, zu glauben, daß ohne einen keine neuen Bücher entstehen.
Uwe Wittstock zerlegt die Angelegenheit genüßlich in der Welt, nicht ohne aus Kritiken Winkels zu zitieren, die ja offenbar die reine Lehre der Literaturkritik verkörpern sollen: „Winkels dagegen liebt, auch wenn er sich in der „Zeit“ mit seinen Rezensionen an eine große Leserschaft wendet, lange Inhaltsangaben, lange Sätze, viele Fremdworte (…) und dazu Sätze wie: „Kaum nötig zu sagen, daß die gesamte islamische Kultur die dort exponierte, aufs Alte Testament zurückgehende theologische Problematik teilt und mit ihrer Ablehnung der Figuration jene ornamentalen Dickichte und Labyrinthe erzeugt, die der Roman von Christoph Peters so ausgiebig vorstellt und auskostet. Man könnte den Finessen, mit denen diese Labyrinthe der Undarstellbarkeit im Roman ausgefächert sind, noch lange weiter nachforschen.“ Ob solcher Schwurbel das Publikum tatsächlich anregt, Christoph Peters‘ Finessen in den Labyrinthen der Undarstellbarkeit nachzuforschen, sei jetzt mal dahingestellt.
Jetzt ist ja die schönste Debatte nix, wenn keiner antwortet. Und Weidermann ist nicht umsonst Literaturredakteur der SoFAZ, da darf man dann auch gern mal in der Montagsausgabe unter dem Titel „Das Lesen ist schön“ Stellung beziehen und seine Sicht der Dinge darlegen. Jedes Mal, wenn jemand so etwas Ähnliches wie seinen persönlichen Kanon im Kopf auch mal aufschreibe, ginge das Geschrei los. „Ein besonders abseitiger Teil der Debatte“, schreibt Weidermann, „beschäftigt sich mit der Frage, wie leidenschaftlich Literaturkritik sein darf, wer unter den Kritikern eine „Scheinleidenschaft” verkörpere und wer die wahre Leidenschaft. Nein, eine solche Debatte versteht kein Mensch außerhalb des Literaturbetriebs, und sie interessiert auch niemanden. Eine Literaturkritik, die eine solche Frage ernsthaft diskutiert, hat sich von den Lesern längst verabschiedet. Sie will keine Öffentlichkeit. Sie will unter sich bleiben. Das ist ihr gutes Recht.“
Wenigstens hätten wir jetzt mal Sauen und Eichen voneinander unterschieden, prima, und ihre Zuständigkeiten grob umrissen. Weidermann erzählt im folgenden von seinem Vorhaben, zu zeigen, was die letzten sechzig Jahre so zu bieten haben, jenseits von bleierner Nachkriegsliteratur und Gruppe 47, dabei Langeweile zu vermeiden und radikal subjektiv zu sein.
Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber Weidermanns Unternehmen, mit Begeisterung an die Sache heranzugehen und Ansteckungsgefahr nicht von vorneherein auszuschließen, ist doch grundsympathisch. Mir ist eigentlich ziemlich wurscht, welchem Stall er entspringt und welchen Stallgeruch er dementsprechend aufzuweisen hat, der die Kollegen offenbar abstößt, aber so ein kurzes, begeistertes Überblicksbüchlein kann man doch mal schreiben, oder nicht? Man kann schonmal als Literaturhistoriker zum Flaneur werden, wie Tilman Krause in der Welt schreibt (übrigens ein historischer Moment: Ich bin das erste Mal grob einer Meinung mit Herrn Krause), wenn man dabei im Blick behält, daß das natürlich nicht der Weisheit letzter Schluß und der Epoche tiefstmögliche Erforschung ist. Wenn man also weiß, das es dabei nicht bleiben kann. Und auch, wenn Ina Hartwig in der FR „Schriftstellerlebengeschichtskitsch“ wittert und Wolf Biermann empört den Verlag verläßt, vielleicht dann sogar erst recht. Etwas geschickter geht Martin Krumbholz in seiner Besprechung in der NZZ vor, der auf die Gefahren hinweist, die ein solches Unternehmen mit sich bringt.
Weidermanns Buch ist also nicht an seiner Methodik zu messen und daran, ob diese nun richtig, falsch, poppig oder akademisch auf neuestem Stand ist. Es ist daran zu messen, ob ihm seine Intention gelingt, also ob es tatsächlich so literaturverführerisch wirkt wie der Autor es beabsichtigt hat. Scheinbar ist das der Fall, glaubt man Augenzeuge Bartels von der taz, der die „Aufmerksamkeitsschwelle“ bei der Lesung als erstaunlich hoch einstufte, „als er [Weidermann] seine Texte über Undine Gruenter oder Handke las, war es still im LCB, das Publikum hörte gebannt zu. Als aber Ulrich Greiner noch aus seinem eigenen Leseverführer, einer Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur, las, da wurde unruhig mit den Füßen gescharrt, wollten die Ausführungen zu Erzählhaltungen und Erzählperspektiven so gar nicht verführen.“
Und weiter geht’s. Die von mir sehr geschätzte Literaturzeitschrift Volltext aus Wien bekam vom Deutschen Literaturfonds Darmstadt satte 300.000 Euro aus einem Fördertopf zugesprochen. Soweit, so erfreulich. Mit diesem Geld soll nun eine Sonderausgabe zur Buchmese im Herbst finanziert werden, in der der Deutsche Buchpreis („The German Booker“ – wer hat da gelacht?) bejubelt werden soll. Und da beginnt die Sache nun, ein wenig Geschmäckle zu entwickeln: So viel Geld für Autoreninterviews, Portraits, Vorabdrucke, kurz: Werbung – oder doch Berichterstattung? – über ein zu hypendes Lieblingskind der Branche. Andererseits begleitet Volltext den Bachmannwettbewerb bereits seit Jahren in dieser Art mit einer Sonderbeilage, auch ohne Fördergelder, und ich als Wettlesen-Stammguckerin und regelmäßige Protokollantin weiß diesen Service durchaus zu schätzen.
Der Literaturfonds selbst spricht in seiner Pressemeldung davon, „neue Wege der Förderung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zu erproben“. Man plant Großes auch in Sachen Leseförderung: „So sollen beispielsweise sämtliche Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz angeschrieben, Kontakte zu den Lehrern aufgebaut und Vorschläge für die Verwendung der abgedruckten literarischen Texte im Unterricht gemacht werden. Auch die germanistischen Hochschulinstitute und Fachschaften werden angesprochen, ebenso die Bibliotheken in den deutschsprachigen Ländern vorab informiert, damit sie ein gezieltes Buchangebot zu den vorgestellten Autoren bereitstellen können usw.“ Die in der Sonderausgabe besprochenen Bücher sollen unabhängig vom Markterfolg von einer eigens eingerichteten Redaktion ausgewählt werden, vor allem junge Autoren sollen einen Schwerpunkt bilden (näheres zm Projekt im FAQ auf der Volltext-Website).
Das klingt doch alles in allem erstmal ganz löblich. Vor allem, daß man Anschluß an Schule und Universität sucht, ist eine feine und viel zu selten durchgeführte Sache.
Und los gehen die Proteste. Ernest Wichner, Leiter des Berliner Literaturhauses, spricht von „Unfug“, ja hält die Förderung für „geradezu obszön“. Maria Gazzetti vom Frankfurter Literaturhaus meint, „Wir sind doch nicht bei ,BahnMobil‘!”
Ulli Janetzki vom LCB (Literarisches Colloquium Berlin, s.o.) wirft Gunther Nickel, der die Förderung verantwortet, in einem ausrufezeichenschwangeren offenen Brief „einen beispiellosen Akt von Selbstbedienung“ vor, da Nickel auch als freier Autor für Volltext arbeite, das sei so „Gutsherrenart“: „Daß Sie mit Ihrer Aktion Buchmarkt und Gegenwartsliteratur verwechseln, wird Ihnen das deutschsprachige Feuilleton noch ausgiebig erklären.“
Prima, ich warte gespannt.
Bernd Busch vom Literaturfonds hingegen betont, Nickel habe das unmöglich allein entscheiden können: „Schon gar nicht kann das (aus sieben stimmberechtigten Mitgliedern bestehende) Kuratorium als ein Gremium gewertet werden, das vom Lektor für eigene Interessen instrumentalisiert werden kann.“
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß Busch aus einer E-Mail von Janetzki (LCB) zitiert, in der dieser sich vor kurzem noch „fasziniert von der Idee“ gezeigt und seine Unterstützung zugesagt habe. Was den plötzlichen Stimmungswandel herbeigeführt habe, könne sich Busch nicht erklären.
Felicitas von Lovenberg erwähnt in der FAZ, der Literaturfonds habe für die vom LCB herausgegebene Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ keine Förderung bewilligt, Janetzki betone aber, er sei „nicht beleidigt“. Frau Lovenberg hat auch in Erfahrung gebracht, daß die Literaturhäuser eine eigene Publikation planen, weshalb man sich bei der Volltext-Kooperation nicht beteiligen wolle. Herr Nickel antwortete darauf, „daß die Literaturhäuser eine Kooperation ausschlagen und nun statt dessen eine eigene Zeitschrift gründen wollen, ist eine schlechte Voraussetzung, um beim Literaturfonds Geld zu bekommen. Prima vista werde ich vehement dagegen votieren, schon ganz einfach aus dem Grund, daß ich Kooperationen für einen Königsweg halte … Wenn die Literaturhäuser bestehende ,Kanäle‘ nicht nutzen, sondern lieber ihr eigenes Süppchen kochen wollen, ist das in meinen Augen ein schwerer Fehler.“ Eine Debatte über die deutsche Literaturförderung sei überfällig, konstatiert Lovenberg, und auch Wieland Freund in der Welt fragt: „Ein Fall von Vettern-Wirtschaft?“
Nun melden sich neben den Großkalibern auch die kleinen aber feinen Literaturzeitschriften zu Wort: Am Erker, Bella Triste (Zentralorgan der Kulturjournalisten und Literarischen Schreiber von der Uni Hildesheim) und die von mir ebenfalls sehr geschätzte Kritische Ausgabe (die sich auf ihrer Internetseite auch dazu äußert) haben sich zusammengetan und einen offenen Brief geschrieben. Jetzt befürchtet man natürlich, klar, die stimmen ein in den Protestchor, denen wurde ja fett was weggeschnappt an Geldern, die müssen ja eh schon knausern, um zu überleben. Da wird, wähnt man, die Eventkultur der jahrelangen, mühsamen Aufbauarbeit vorgezogen.
Ist aber nicht so, auch hier sind die Fronten nicht so eindeutig wie sie scheinen (oder einige sie wähnen): „Uns aus unserer Unterperspektive erscheint es eher so, als würden hier verschiedene größere Institutionen um den besten Platz an den Fleischtöpfen kämpfen“, schreiben die drei, und: „Vor allem anderen sehen wir dabei die Gefahr, dass der Deutsche Literaturfonds e.V. fundamental angegriffen und beschädigt werden soll. Wir halten den Literaturfonds für eines der am besten funktionierenden Instrumente der Literaturförderung in Deutschland. Und auch das Kooperationsprojekt gemeinsam mit VOLLTEXT finden wir richtig und unterstützenswert.“ Der Vorwurf, durch diese Entscheidung gingen kleinere Zeitschriften leer aus, sei „reine Suggestion“, sie seien in diesem Jahr wie auch in den vergangenen Jahren „in großem Umfang“ gefördert worden. Und auch Gunther Nickel sei nichts vorzuwerfen, er mache seine Sache sehr gut: „Versuche, diesen Verdienst kleinzureden, sind in unseren Augen ehrenrührig.“
Auch Daniel Kehlmann stellt sich auf die Seite der Entscheidung des Literaturfonds: Gunther Nickel sei einer der „unzynischsten“ Menschen, der ihm im Literaturbetrieb begegnet seien. Darüber hinaus senden Michael Kleeberg, Sibylle Lewitscharoff, Paul Brodowsky und der Wallstein-Verlag ihre Solidaritätsadressen. Joachim Leser von bluetenleser.de konstatiert, daß es wohl keine Alternative zum Volltext-Projekt gibt, will man wirklich Literatur millionenfach unter’s Volk bringen, und Georg Klein bemüht sich um eine Versachlichung der Debatte. Weitgehend neutral kommentiert auch Christoph Schröder in der FR.
Inzwischen (5.5.2006) hat auch der Literaturfonds selbst Stellung bezogen, wünscht sich eine sachlichere, weniger auf die Person Nickels bezogene Debatte und erklärt nochmal, daß das gesamte Kuratorium hinter der Entscheidung steht. Aufgrund der Angaben der Literaturhäuser zu der geplanten eigenen Publikation konnte der Literaturfonds seine Erklärung zusätzlich präzisieren und fordert seinerseits mehr Transparenz.
Aber auch die Gegenseite legt nach: Frau Lovenberg reiht in der FAZ Gemunkel und Gemauschel (aber nix Genaues), das die Integrität Nickels in Frage stellen soll: Nirgends wird bewiesen, aber überall nahegelegt, der Lektor habe sich die eigenen Taschen gefüllt, schreibt Johannes Breckner im Darmstädter Echo. Und laut FAZ weist der Literaturfonds nun zurück, daß die Sonderbeilage überhaupt mit dem Buchpreis verknüpft sei. In der Welt bemüht Elmar Krekeler das Metaphernfeld um Sumpf, Fäulnis und stinkendes Geblubber – und Herr Nickel stecke da natürlich mittendrin. Welt-Kollege Tilman Krause hält in seiner Klartext-Kolumne gleich gesellschaftskritisch dagegen: Kritik an einigen seiner [Nickels] Projekte sollte sich nicht dem Verdacht aussetzen, aus jenem Ressentiment gegen Leistung sich zu speisen, das ohnehin soviel Elan in unserer Gesellschaft torpediert schreibt er, und die nickelkritischen Kritikerkollegen und -kolleginnen hätten sich wohl einfach verrannt (um Himmels Willen: Schon wieder nähern sich Herrn Krauses und meine Meinung an – was ist nur mit uns los? Werde ich alt oder Krause altersmilde?).
Korrupt oder nicht? Hier steht wohl Aussage gegen Aussage. Blöderweise tendiere ich dazu, eher den Vertretern der kleinen Literaturzeitschriften zu glauben, die mit ihrem Posten nicht wirklich ihre Brötchen verdienen können. Die das, was sie tun, mehr aus Enthusiasmus tun als sonstwas. Mag sein, daß ich da falsch liege und hoffnungslos idealistisch bin – vielleicht sind die gutbezahlten ja auch die Guten? Aber warum nur rieche ich deutsch-österreichische Mißgunst, wenn Frau Lovenberg meint, „daß eine 300.000 Euro teure, einmalige Sondernummer mit einer Million Exemplaren die österreichische Literaturzeitschrift „Volltext” mehr fördert als die deutschsprachige Literatur“? Will man den Austriaken das nicht gönnen? Auch, wenn die wirklich gut sind? Und auch, wenn die ja selbst kein Geld bekommen, sondern sich nur höhere Abbonnentenzahlen versprechen? Fragen, die ich hier mal stelle, ohne die Antwort zu kennen.
Warum ich das hier alles Länge mal Breite referiert habe? Zum einen der Vollständigkeit halber. Zum anderen, weil es so schön zusammenpaßt: Immer dann, wenn mal irgendwer an die Leser denkt, ist der Skandal da. Irgendjemand steht immer auf und schreit: Populismus! Bäh! Irgendjemand hebt sofort Frontgräben aus und beginnt, Verteidigungsgemetzel um die einzig wahre Herangehensweise an Literatur auszufechten, um die „angemessene Lektüre der Welt selbst“.
Ich für meinen Teil wittere da Scharmützel in Ehren ergrauter Eminenzen des Betriebs um Deutungshoheiten und Meinungsmonopole. Und, ja, auch ums Pöstchen. Und daß sich ausgerechnet die erklärten Gegner des Erregungsfeuilletons derart öffentlich erregen, widerspricht ihren Prinzipien und steht ihnen ähnlich gut zu Gesicht wie Transparency International Deutschland die undurchsichtige Affäre um die bescheidene persönliche Meinung einer Bloggerin, die ihr unterm Hintern weggedroht werden sollte. Wie sonst ließen sich diese vehementen Abgenzungsgefechte erklären?
Wir alle wissen, daß auch Literaturvermittlerinnen wie Elke Heidenreich, die nicht unbedingt akademischen Kriterien genügen, ihr Publikum haben. Man könnte sogar sagen, es gibt eine Nachfrage nach unkomplizierter, übersichtlicher Präsentation des unübersichtlichen Sortiments. Und es führt ja auch dazu, daß Leute in großen Mengen Bücher kaufen, die auch das Hochkultur-Feuilleton einträchtig lobend besprochen hat, siehe Kehlmann. Da steht man dann als Literaturredakteur staunend vor dem Verkaufsphänomen und weiß genau, daß es nicht die eigene Rezension im überregionalen Tageszeitungsfeuilleton war, die das bewirkt hat, es aber eigentlich hätte sein müssen, man hat ja auch seinen Stolz. Und so wettert man gegen Weidermann und sein Buch, wettert gegen die Volltext-Ausgabe zum Buchpreis und wettert letztendlich nur dagegen, daß Leute aus falschen Gründen die richtigen Bücher kaufen könnten und man selbst mal wieder nicht involviert war.
Nicht Gunther Nickel verwechselt Gegenwartsliteratur und Buchmarkt. Mir scheint es eher so, als verwechselten Kritiker und Programmacher Literaturvermittlung mit Literaturwissenschaft. Dafür sind nämlich die Akademiker zuständig, die an den Unis, ihr wißt schon, da kommt ihr ja alle her. Da wollt ihr vermutlich auch wieder hin, aber jetzt habt ihr halt diesen blöden Job bei der ZEIT. Lebt damit.
Tags: FAZ, Kritik, Literatur, literaturbetrieb, Literaturkritik, medien
Mit flattr kann man Bloggern mit einem Klick Geld zukommen lassen. Infos
04.04.2006 um 12:00 Uhr
Vielen Dank für diese schön pointierte Zusammenschau der beiden aktuellen Literaturdebatten! 🙂
Bezüglich der Biller/Winkler/Weidermann-Diskussion übrigens ebenfalls lesenswert: ein Artikel von Uwe Wittstock aus der heutigen „Welt“.
Und nicht zuletzt Danke für die Solidaritätsnote in Sachen Literaturfonds! Ich hoffe sehr, dass die Debatte nicht vollends zur Schlammschlacht gerät, sondern auf ein sachliches Niveau fernab von persönlichen Anschuldigungen und Ressentiments findet! Denn eine Diskussion über die Praxis und den Sinn von Literaturförderung könnte durchaus ergiebig sein, sofern es den Beteiligten nicht nur um die Sicherung der eigenen Pfründe geht.
04.04.2006 um 12:33 Uhr
vielen dank! der wittstock ist mir entgangen, ich habe den artikel nun dahingehend ergänzt.
nunja, ich hab mir nicht sehr leichtgetan mit einer entscheidung in dieser affäre, auf den ersten blick könnte man tatsächlich vetternwirtschaft vermuten. es ist ja auch nicht so, daß klüngelei im kulturbetrieb eine ausnahmeerscheinung wäre.
aber letztendlich halte ich die herrschaften kehlmann, diel und die volltext-redakteure für so integer, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß aus diesen reihen ein komplott gegen die literaturhäuser oder programmacher gestartet werden soll, um gelder abzugreifen. die vorstellung allein ist ziemlich absurd. träfe jedoch der vorwurf der vetternwirtschaft (ohne deppenbindestrich, mein freund!), dann implizierte man jedoch genau das. und nein, das kann ich einfach nicht glauben.
gutes durchhaltevermögen noch und macht weiter mit der guten arbeit,
andrea
04.04.2006 um 14:51 Uhr
Danke für die Blumen den Strauß! 😉
Neuester Beitrag zur Debatte ist übrigens auf perlentaucher.de ein Essay von Georg Klein, der sich ebenfalls in der Versachlichung der Debatte übt und sich bemüht, sie auf das Wesentliche zurückzubringen. (Jaja, fängt man einmal an zu dokumentieren… 😉 )
04.04.2006 um 15:31 Uhr
ich komm kaum noch nach 🙂
nun noch eine übelgelaunte frau hartwig in der FR.
04.04.2006 um 18:05 Uhr
[…] 01 – 02 – 03 – 04 – 05 – 06 – 07 – 08 – 09 – 10 – 11 – 12 – 13 – 14 – 15 – 16 – 17 – 18 – 19 – 20 – 21 – 22 – 23 – 24 – 25 – 26 – 27 – 28 – 29 – 30 – 31 – 32 – 33 – 34 – 35 – 36 – 37 – 38 – 39 – 40 – 41 – 42 – 43 – 44 – 45 – 46 – 47 – 48 – 49 – 50 – 51 – 52 – 53 – 54 – 55 – 56 – 57 […]
05.04.2006 um 11:12 Uhr
Die FAZ legt nach – und langsam wird es wirklich unappetitlich… Zumal ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass wir hier Zeugen einer Kampagne sind, die sich als investigativer Journalismus ausgibt, sich um Sachlichkeit bzw. die wahren Kernfragen der Debatte jedoch kaum einen Deut schert. Wollte Frau von Lovenberg nicht vorgestern noch eine Diskussion über Literaturförderung anstoßen? Es ist wirklich kaum zu fassen! 🙁
06.04.2006 um 12:33 Uhr
Toller Beitrag 🙂
06.04.2006 um 18:58 Uhr
So soll es ein 😉
Ich hatte sogar schon lobende (und um SCreibirrtumkorrektur bittende) Leserpost von Beteiligten dazu. Ist bereits an Andrea gegangen 😉
06.04.2006 um 19:13 Uhr
… die bereits korrigiert hat.
ob ich es jemals im leben schaffe, den namen sibylle richtig zu schreiben? ich mach das seit der 6. klasse konsequent falsch.
06.04.2006 um 20:08 Uhr
Wer spricht schon Lybien, ehm, Libyen korrekt aus? 😉
06.04.2006 um 21:09 Uhr
Ein sehr schöner klärender Beitrag zum Streit um das Volltext-Projekt, dem ich als Deutschlehrer (es gibt auch ein Leben außerhalb der Literaturszene) mit großen Erwartungen entgegensehe.
Joachim Feldmann (Am Erker, seit gestern definitiv ohne Regelförderung durch die Stadt Münster)
07.04.2006 um 9:00 Uhr
Sehr gute Zusammenfassung der beiden Debatten,obwohl die um den LIteraturfonds ja nicht wirklich Debatte genannt werden kann. Hier sieht man eindeutig, dass die Medien um nichts eine eventuellen Skandal aufgeben möchten, ist er auch sowas von an den Haaren herbeigezogen. Hauptsache Skandal und die Zeitungen werden gekauft. Auch wenn man sichs von ein paar Blättern nicht erwartet hätte … FAZ-Abo ade! 🙂
07.04.2006 um 16:00 Uhr
„FAZ-Abo ade!“
Empfehle ein NZZ-Abo 😉
07.04.2006 um 22:57 Uhr
Die Volltext hat nun übrigens auf ihren Seiten eine FAQ mit den „am häufigsten gestellten Fragen im Zusammenhang mit dem Zeitungsprojekt des Deutschen Literaturfonds“ veröffentlicht.
09.04.2006 um 16:08 Uhr
[…] nur eine kurze replik auf das ausufernde gewerbe: „Wir alle wissen, daß auch Literaturvermittlerinnen wie Elke Heidenreich, die nicht unbedingt akademischen Kriterien genügen, ihr Publikum haben.“ (literaturwelt – andrea diener). […]
11.04.2006 um 23:34 Uhr
[…] Weidermanns Verwechslung von Literatur und Autoren-Leben, die vermutlich keine ist, sondern nur dem Verkommen von Literatur zum Event geschuldet,2 spiegelt bestens, was Heiden:reichts armutszeugnishaftes BücherbeJAUCHzEn betreibt: Stammeln auf Dutt-Niveau. Oder, wie es Winkels in einer SWR2-Diskussion so schön umschrieb: „Tautologische Rutschbahn“.3 Wenn Andrea Diener4 meint: Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber Weidermanns Unternehmen, mit Begeisterung an die Sache heranzugehen und Ansteckungsgefahr nicht von vorneherein auszuschließen, ist doch grundsympathisch. […]
02.05.2006 um 11:52 Uhr
[…] Dieses Jahr wird es nix mehr mit der umstrittenen Volltext-Sondernummer (siehe hier) – aber im April 2007 soll sie dann wirklich erscheinen, wie geplant mit finanziellem Backup vom Literaturfonds Darmstadt. Dann eben nicht zur Buchmesse, sondern zum Welttag des Buches – dann hat man auch mehr Vorlauf bis zum Deutschen Buchpreis. […]
20.05.2006 um 10:04 Uhr
Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, was seit gestern auf der Volltext-Homepage zu lesen ist:
»Die Literaturzeitung Volltext verzichtet auf das für Frühjahr 2007 geplante Kooperationsprojekt mit dem Deutschen Literaturfonds zur Produktion einer gemeinsamen Sonderausgabe. Der nach wie vor anhaltende Erklärungsaufwand, der infolge der medialen Diskussion um das Projekt entstanden ist, erfordert den Einsatz von Arbeitszeit in einem Ausmaß, das für einen kleinen Verlag ökonomisch nicht tragbar ist – dies umso weniger, als im Rahmen der Kooperation kein Geld an Volltext geflossen wäre und Einnahmen nur der Refinanzierung der Sonderausgabe gedient hätten.
Die Idee ein großes Projekt in Form eines Public Private Partnerships zu realisieren, kommt für den Literaturbetrieb offensichtlich zu früh.«
Uwe Wittstock kommentiert die Entscheidung in der heutigen Welt so:
»Bezeichnend ist, daß der Knoten in diesem Konflikt von den »Volltext«-Redakteuren durchschlagen wurde. Vorstand und Kuratorium des Literaturfonds sahen noch Anfang des Monats trotz heftiger Einsprüche keinen Anlaß, ihre Entscheidung zu korrigieren.«
Dem Darmstädter Echo gegenüber hat Gunther Nickel Verständnis, aber auch Bedauern geäußert:
»›Das wäre eine gute Sache gewesen.‹ Das Scheitern sei die Folge einer Kampagne, die mit Hass und Neid geführt worden sei. Sie schade auch dem Literaturfonds: Die Aussichten für weitere Kooperationsprojekte beurteilte Nickel pessimistisch.«
23.05.2006 um 11:16 Uhr
Vielen Dank für die Ergänzung!
Ich bin immr wieder baff, wie uninformiert diejenigen Literaturfunktionäre sind, die so vollmundig über das Projekt herziehen. Aber die uninformierten Drüberherzieher gewinnen ja meistens, so auch in diesem Fall. Tja.
25.05.2006 um 13:32 Uhr
das wars dann sozusagen. na toll. finde es immer wieder toll wie einige menschen kreative ideen und projekte abschießen, bloß wer der neid ihren geist zermartert.