Montag, 04.10.2021 | 10:22 Uhr

Autor: rwmoos

Nicole Grom: Achtung Geschichtsdiebe, World for Kids Verlag, Berlin 2021

Geschichtsliebe vs. Geschichtsdiebe

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Um es gleich vorwegzunehmen: Wenn Sie möchten, dass Ihre 8-13jährigen an verregneten Urlaubstagen mal nicht beim Daddeln verdampfen, schenken Sie ihnen dieses Buch: Es wird für sie eine sehr schöne Ferienlektüre. Sie werden nur im Anschluss mit ihnen nach Prag fahren müssen.

Die Geschwister Jana und Pavel sind eigentlich fast ganz normale Prager Kids. Der Dritte im Bunde ist ihr ein wenig zu lebhafter Hund Streusel, der Süßigkeiten wegputzt wie nix. Zusammen verdienen sie sich mit Gespenster-Auftritten bei Gruselführungen für Touristen ein kleines Zubrot. Vielleicht deshalb interessieren sie sich ein wenig mehr für Geschichte und Geschichten ihrer Stadt, als man das für den Durchschnitt ihrer Altersklasse erwarten dürfte. Sie kennen sich mit Rabbi Löw und seinem Golem ebenso aus wie mit dem Flussgeist Purkrábek und dem bis heute unentzifferten Voynich-Manuskript. Natürlich kennen sie auch die Geschichten um die Rathausuhr und ihr Glockenspiel, vor dem die Touristen immer stehen, als wollten sie sich „auf Teufel komm raus einen steifen Nacken holen“.
Zudem führt sie jeder Sonntag in das kleine private Museum der alten, freundlichen aber auch geheimnisumwitterten Frau Vondrácková, wo sie ihr Wissen noch einmal erweitern.

Als sich eines Tages das Verhalten und Befinden von Frau Vondrácková abrupt ändert, schwant den drei Helden der Geschichte noch nicht, dass dahinter eine Organisation steht, die nichts weniger als den kompletten Untergang der Stadt im Schilde führt.
Bald sind die drei die Einzigen, die diesen Untergang aufhalten können. Geleitet von einer an eine Schnitzeljagd gemahnenden Brief-Kette und einigen verborgenen Helfern stellen sie sich ihrer Aufgabe: Die Geschichte und die Geschichten der Stadt vor der Vernichtung retten und damit der Stadt ihre Identität bewahren. Aber geht es nur um die Stadt? Oder ist die Stadt ein Symbol ihrer eigenen Identität?
Das alles wäre ja noch ein wenig einfacher, wenn Jana nicht wegen eines traumatischen Kindheitserlebnisses so unter Klaustrophobie leiden würde …

Vielleicht sollte man sich den Stadtplan im Einband des Buches ein wenig ausführlicher und präziser wünschen. Für junge Menschen, die mit der Örtlichkeit nicht vertraut sind, wäre das hilfreich. Andererseits: Prag hat nicht nur mehr schöne und historisch bedeutsame Ecken als die meisten anderen Großstädte – es ist auch eine Stadt, die sich selbst erklärt. Was ich damit meine? Nun: Ich war acht oder neun Jahre alt, meine Familie hatte sich irgendwo in jenen Studentenwohnheimen der Universität einquartiert, die in den Semesterferien leer standen und ließ sich von einem exkommunizierten Priester, der die Stadt wie seine Westentasche kannte, in einer knappen Woche durch sämtliche Sehenswürdigkeiten jagen, die sich hier am Moldau-Ufer zusammen gefunden hatten. Eines Nachmittags verlor ich den Rest der Truppe aus den Augen und träufelte erst am Abend wieder bei den Unterkünften ein. Während meine Eltern kurz vor dem Herzkasper standen, bestaunte ich auf eigene Faust all die Dinge, die einen Neunjährigen in solch einer Stadt interessieren und ließ mich schließlich, als ich müde wurde, mit der Tram an den Stadtrand kutschieren. Ich hatte die ganze Zeit überhaupt keine Angst, außer davor, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. In einer derart in sich stimmigen Stadt konnte ich mich einfach nicht verirren. Meine armen Eltern sahen das damals leider offenbar ganz anders und improvisierten einen pädagogisch äußerst fragwürdigen, aber entfernt der Wirklichkeit entsprechenden Stadtplan – handwerklich gar nicht mal ungeschickt – auf meinem Hinterteil. Ein einprägsames Erlebnis also.

Jahre und pädagogische Universen später, als ich auf der Rückreise von einem Urlaub meinen eigenen Kindern die Stadt ans Herz legen wollte, bekam meine Zuneigung zu Prag einen herben Dämpfer: Es regnete wie verrückt und wir hatten den Familienbus kurz abgestellt, um gemeinsam in einem Restaurant zu Mittag zu speisen. Nachdem die seltsam überteuerte Rechnung beglichen worden war, musste ich am Vorderrad des VW-Busses eine Parkkralle feststellen. Mitsamt einem Aufkleber an der Scheibe des Inhalts, wo am Stadtrand ich mich zwecks Auslösung des Fahrzeugs zu melden habe. Irgendwie hatte ich wohl im Regen beim Einparken ein Verbotsschild übersehen. Mit sieben Kindern im Schlepptau hielt sich das Entzücken ob der nun in Aussicht stehenden Tagesumplanung in Grenzen. Ich war vielmehr derart wütend, dass ich mit Hilfe eines alten ostzonalen Eisensägeblatts und bloßen Händen bei wiedereinsetzendem wolkenbruchartigen Regen den Qualitätsstahl der Kralle in zehn Minuten durchgesägt hatte. Meine Frau stand indessen Schmiere. Es hat vierzehn Tage gedauert, bis die Eisenspäne aus meinen Handflächen wieder heraus geeitert waren. Die Reste der Parkkralle habe ich als mahnendes Souvenir mitgenommen und geschworen, diese Stadt nie wieder mit meiner Anwesenheit zu beehren…

Und dann liest man so ein liebevoll geschriebenes Buch. Eine einzige Hommage an die Goldene Stadt. Mit den drei Helden zusammen taucht man auch als Erwachsener derart in die Prager Geschichte und die Legenden ein, dass man am Ende doch wieder die Familienkutsche betankt und losfährt, um dem vom Elternhaus noch nicht ausgeflogenen Rest-Nachwuchs, die Dinge, die er in dem Buch kennen gelernt hat, in real life zu zeigen.

Auch auf die Gefahr hin, dass man dann mitsamt einer Menschentraube in Erwartung des Glockenspiels vorm Alten Rathaus steht, als wolle man sich „auf Teufel komm raus einen steifen Nacken holen“.

Reinhard W. Moosdorf
Tüchersfeld, den 03.10.2021

PS: Beeindruckend ist auch, dass die Autorin der Illustratorin Barbora Kysková, die für die durchaus anspruchsvollen Bilder verantwortlich zeichnet, auf dem Titel einen gleichberechtigten Platz einräumt. Solche kleinen Gesten sind es doch, die die literarische Welt ein wenig lebenswerter machen.

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2 Kommentare

  1. Manja Says:

    Interessante Rezension. Darf ich dir als kleinen Tipp was mitgeben? Verwende evtl. Zwischenüberschriften. Das lockert alles etwas auf. 🙂

  2. rwmoos Says:

    Tipp angekommen und akzeptiert 🙂

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