Dienstag, 07.09.2021 | 20:37 Uhr

Autor: rwmoos

Stuart Turnton: Der Tod und das Dunkle Meer

Irrfahrten sind menschlich

Meine Herzdame liest gerne Krimis. Also lasse ich Kriminalromane, die ich rezensieren soll, zuvor von ihr goutieren und bitte sie danach um ein paar Best-Off-Zeilen. Letztere verwebe ich dann in meine Rezension.
Allen ist geholfen. Der Verlag hat dabei den größten Vorteil, da die Reze auf dem Lese-Erlebnis einer tatsächlichen Zielperson beruht und nicht nur auf dem gelangweilten Produkt eines Schreiberlings.
Soweit der Plan.

Das tatsächliche Leben funzt aber anders: Das Buch findet sich ganz unten im Urlaubs-Lese-Stapel der Herzdame wieder. Da liegt es auch drei Tage vor Urlaubsende noch. Ich aber fühle mich dem Verlag gegenüber verpflichtet. Was also bleibt dem vom Leben gebeutelten Rezensenten? Ich mache ich mich selbst daran, das Buch zu lesen, obwohl ich in dieser Woche eigentlich ganz andere Sachen abarbeiten wollte.
Und war da nicht auch was mit Urlaub …? Ach was. Freizeit wird überschätzt. Und mein Leben ist so, wie es ist: Kompliziert, aber ohne Abenteuer.

Also fläze ich mich, wenn alle anderen zu Bett gegangen sind, in einen Korbsessel und lese, was andere so erleben. Naja, eigentlich lese ich ja, was sich andere in ihrem Sessel ausgedacht haben: Wie Leben funktionieren würde, wenn es so laufen würde, wie sie es sich vorstellen: Kompliziert, aber voller Abenteuer.

Der erste Eindruck ist ein bibliophiler: Hardcover, Schutzumschlag und das Besondere: Im Einbandinneren die liebevoll gestaltete Skizze eines Dreimasters. In ihrer Ausführung die Mitte zwischen Detailverliebtheit und groben Ungenauigkeiten geschickt ausbalancierend.
Das geschickte Ausbalancieren gehört ja zum Schiffbau dazu.
Die Beschriftung der Zeichnung ist auf alt gemacht – zwar weder Deutsch noch Sütterlin, aber zumindest ein wenig in diese Richtung. So, dass es auch noch lesbar für Millenials ist. Auch hier also: Geschickt ausbalanciert.

Voller positiver Vorurteile blättere ich weiter.

Eine Widmung des Autors. Liebevoll verfasst an die eigene Tochter, die des Lesens zwar noch lange nicht mächtig ist, aber später mal wissen soll: Dieses Buch hat der Vater ihr allein gewidmet. Eine Zuneigung in die Zukunft. Sympathisch.

Dann die Vorstellung der Protagonisten der Story. Für Leute, die sich keine Namen merken können ist das ein Segen bei der Lektüre. Ich weiß es zu schätzen.

Bislang wurden also lauter Pluspunkte auf die Fährte gestreut.
Und dann geht’s endlich los.

Nach anfänglichen Holprigkeiten, auf die ich gleich zurückkommen werde, wird in diesem Buch eine komplexe und spannende Geschichte erzählt, der insbesondere in ihren Schlusswendungen auch eine gewisse Tiefe zugesprochen werden darf.
Wie aus Angst auch intelligente Leute Torheiten begehen, was Unerschrockenheit alles nicht mit Tapferkeit zu tun hat, wie Pläne ge- und misslingen – all das hat der Autor zwischen seine Buchdeckel und in den Schiffsbauch seines dreimastigen Ostindienfahrers gesteckt.

Nachdem ich mich erst einmal in der Story vorgearbeitet hatte, habe ich das Buch dann auch gern zu Ende lesen. Zunächst aber muss ich auf die Implikationen zu sprechen kommen, die in dem Wörtchen „nachdem“ stecken.

Die Vorstellung der Charaktere in den Eingangskapiteln ist in mehrerlei Hinsicht derart unglaubwürdig, dass es gerade am Anfang nur schwer gelingt, sich in Zeit und Handlung entführen zu lassen. Zwar begründet der Autor im Nachwort diesbezügliche Nachlässigkeiten in technischer, historischer und sprachlicher Hinsicht damit, dass eine entsprechende Genauigkeit nicht der Handlung im Wege stehen sollte, aber das ist so nicht nachvollziehbar.
Es ist nämlich nicht nur so, dass die Handelnden eine Sprache sprechen, die nicht in das 17. Jahrhundert passt. Das allein wäre als gewollter Stilbruch tolerabel. Es ist auch nicht nur so, dass hier Gedankenfelder gespannt werden, denen im 17. Jahrhundert einfach noch die Voraussetzungen fehlten. Auch das könnte man noch als Stilmittel akzeptieren.

Vielmehr sind die Charaktere in sich nicht stimmig.
Und das ist einem Romanautor nur wirklich nur schwer zu verzeihen.

Ein Beispiel:

Da ordnet die Heldin Sara gleich zu Beginn die Ermordung eines Schwerverletzten „aus Mitleid“ an und lässt ihre minderjährige aber hochbegabte Tochter dabei zusehen. Die nimmt die Begebenheit gefasst auf: So ist das Leben. Kompliziert und voller Tod am Straßenrand. Cool.
Als pädagogisches Highlight sicher diskutabel, doch das ist nicht einmal der Punkt. Wenn aber selbige Tochter später auf dem Schiff wegen ein paar abgeschlachteter Hühner und Schweine gleich losheult und von ihrer Mutter tröstend weggeführt wird, dann ist das extrem uncool. Dann sind nämlich die Charaktere einfach nicht mehr stimmig. Das ist der Punkt.

Und das ist im Buch leider auch keine Ausnahme, sondern die Regel.

Das ist auch nicht als charakterliche Entwicklung oder als innerer Widerspruch eines Charakters misszuverstehen. Eine solche Entwicklung müsste ausgeführt werden, müsste an Brüchen und Erlebnissen oder Gedanken erkennbar nachvollzogen werden können.
Aber davon, dass charakterliche Entwicklungen reiften, ist hier wenig erkennbar. Auch bei den anderen Protagonisten nicht. Und wenn – dann haben diese Entwicklung oder diese Brüche irgendwann in der Vergangenheit stattgefunden. So wenn man im Laufe der Erzählung erfährt, dass der eine oder die andere eigentlich ein ganz anderer Charakter ist, als dies eingangs den Anschein hatte. Da ist doch für die Story selbst von vornherein alles schon fertig.
Das macht die Figuren derart hölzern, dass man manchmal den unangenehmen Eindruck hat, hier habe ein Debütant den eigentlich gut angelegten Plot eines erfahrenen Autors illustriert.

Auch technisch passt zu viel einfach nicht – und auch hier gerät die Entschuldigung am Schluss bestenfalls zur Ausrede.
Um das klarzustellen: Es geht mir nicht um Feinheiten in Hierarchie und Ausstattung eines Ostindienfahrers. Es geht mir vielmehr um physikalische Grundsätze: Auf einem alten Frachtschiff konnte man im Laderaum keine irrgartenähnlichen Gänge zwischen den Kisten lassen – da wäre doch alles bei der ersten Welle verrutscht! Wozu auch den teuren Raum verschwenden, wenn während der Fahrt keiner an die Ladung heran muss!
In der Geschichte sind dann die schweren Kisten zwar schon auch mal „verankert“. Doch dann können sie an anderer Stelle auch wieder mal eben so beiseite geschoben werden …

Oder die Story, dass man nicht genug Nahrung für die Passagiere hätte laden können, weil der Frachtraum schon zu voll gewesen wäre! Für einen Zeremonialplatz – im Laderaum! – hat es aber dann doch noch gereicht. Dort habe man auch unbeobachtete Kerzen zu einem Altar angezündet. Leute! Da hätte man doch gleich das Schiff komplett abfackeln können. Versetzt sich denn da niemand, weder Autor noch Lektor, in die Situation eines Ostindienfahrers wenigstens ansatzweise rein?
Oder das: Mitten während der Fahrt – so die Auflösung eines Rätsels – schwimmt ein Mann entlang der Bordwand, um woanders eine Leiter zu erklimmen. Bei einem Segelschiff in voller Fahrt auf hoher See!

Oder die Fiktion, dass ein junges Mädchen einfach so aufgrund ihrer Begabung einen Himmelsglobus konstruiert. Ohne Vorbilder, ohne Ausbildung, ohne Lehrer, ohne überhaupt irgendwas.
Das ist ein dermaßen technischer Schwachsinn, dass man es auch mit viel guten Willen nicht mehr durchgehen lassen kann. Erfindungen brauchen ein Fundament, einen Stand des Wissens, Vorgänger, auf denen sie aufbauen etc.: Ohne Laufrad kein Hochrad, kein Fahrrad. Hätte man dem Super-Hirn-Girl nicht wenigstens einen verkannten Lehrer in die Krippe legen können?

Von dieser Art gibt es so viel in dem Buch …
Wie gesagt – ein oder zwei dieser Fails wären akzeptabel. Auch wenn man daraus einen Stil à la Steampunk bastelt, mag es noch angehen. Die technischen Brüche würde man dann vielleicht sogar noch schlucken, wenn nur die Charaktere stimmig wären, aber so?
Als schlichte Fehlerkette bleibt das alles nervig und reißt wegen dieser allzu sichtbaren Ungereimtheiten immer wieder aus der Handlung heraus, anstatt, wie vom Autor laut Nachwort beabsichtigt, darauf zu konzentrieren.

Schade. Aus dem Plot hätte man mehr machen können. Falls es mal zu einer Verfilmung kommt – und das möchte man der Geschichte wünschen – sollten sich ein paar gute Drehbuchschreiber drum kümmern. Dann wird der Film sicher besser werden als das Buch.

Und das ist dann doch nun wirklich ein Kompliment.

Tüchersfeld, den 03.09.2021

Reinhard W. Moosdorf

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