Dienstag, 08.07.2014 | 18:45 Uhr
Autor: Odile
Malerisch hingebettet liegt die junge Frau im Gras des Yoyogi-Parks, im rosa Lolitakleid, die Augen geschlossen, auf ihrem Gesicht liegen Kirschblüten. Ein poetisches Hanami-Bild, scheint es. Wenn die junge Frau nur nicht so tot wäre. Und wenn Inspektorin Yuka Sato nicht diese lästige Kirschblütenallergie hätte.
Mit dem ersten Satz des Japan-Krimis „Yoyogi Park“ sind wir mitten im mörderischen Geschehen, auch wenn wir es erst im dritten Satz merken. Inspektorin Yuka Sato vom Tokyo Metropolitan Police Department ist mit ihrem Assistenten Shun Nakashima zum Tatort gerufen worden und wird 338 Seiten lang ermitteln. Und gleich der Anfang setzt den Ton des Romans, der durch eine spannende Story, ausgezeichnete Japankenntnisse, interessante Figuren und Humor besticht.
Es erstaunt nicht, dass die vom Autor Andreas Neuenkirchen als Tetralogie geplante – und auf den Jahreszeiten beruhende – Krimiserie mit Kirschblüten beginnt. Diese dienen nicht nur als japanisches Frühlings-Klischee, sondern gewissermaßen als symbolische Vorausschau: Vergehen in Schönheit. Auch wenn der Mörder dieses japanische Ideal etwas missverstanden zu haben scheint. Aber das erfahren Yuka Sato und Nakashima – und damit auch wir – erst viel, viel später. Allerdings haben die LeserInnen den ProtagonistInnen etwas voraus: sie wissen mehr, ohne dass sie es wissen. Die sorgfältig gestreuten Hinweise werden den Meisten erst beim zweiten Lesen auffallen.
Die Ermittlungen führen die Inspektorin und ihren Assistenten in die angesagten Stadtviertel Harajuku, Akihabara und Shinjuku, aber auch in die weniger spektakulären Vororte der Hauptstadt. Und – natürlich, es ist Frühling – in den von Kirschblüten leuchtenden Yoyogi Park, in dem alles beginnt und endet. Eine sorgfältig konstruierte, spannende Story in fünf Akten, in der die erste Tote nicht die einzige malerisch arrangierte Leiche bleiben wird. Dabei wären so viele Leichen eigentlich gar nicht nötig. Die lebenden ProtagonistInnen alleine machen das Buch schon lesenswert.
Es scheint typisch japanische Bescheidenheit, wenn Inspektorin Yuka Sato in einem Gespräch mit dem Pathologen Daisuke Kawase sagt: „Ich bin nur in der Gegend umhergeirrt und habe Menschen befragt.“ Hier zeigt sich aber auch etwas, was zugleich Stärke und Schwäche des Romans ist. Einerseits ist es das Reizvolle an diesem Japan-Krimi, dass neben der Krimistory auch Yuka Satos Privatleben Teil der Handlung ist. Sie ist keine Superheldin, sie wird nicht nur in ihrer offiziellen Funktion als Inspektorin gezeigt, sondern auch als Mensch lebendig. Sie geht zu Single-Partys, trifft sich mit ihrer australischen Freundin Sam in Nudelrestaurants oder muss trotz warmer Temperaturen den Tag im Mantel zubringen, weil ihre Bluse in der mehr oder weniger leidenschaftlichen Nacht zuvor reichlich lädiert wurde.
Andererseits wirft die Inspektorinnen-Seite der Figur, die sich sehr menschlich und bescheiden in der hierarchisch strukturierten und männlich dominierten Polizeiarbeitswelt Tokyos bewegt, auch Fragen auf. Wir teilen etwa die Skepsis ihres Assistenten Shun Nakashima, als Yuka Sato gleich am Anfang die Leiche bewegen will, bevor der Pathologe eintrifft. Und es erstaunt etwas, hier eine weibliche Inspektorin als leitende Ermittlerin zu sehen, deren sämtlich männliche Untergebene ihre Autorität problemlos aktzeptieren. Hier hätte man sich ein etwas differenzierteres Bild gewünscht; dies vor allem, da in fast allen anderen Bereichen des Romans eine akribische Detailgenauigkeit an den Tag gelegt wird. Natürlich hat der Autor Recht, wenn er sagt, ein Roman sei kein Sachbuch. Andererseits jedoch verfügt dieser Roman über die Genauigkeit eines Sachbuchs. Dieser kleine Widerspruch bleibt bestehen. Auch wenn wir dem Autor durchaus zustimmen, wenn er auf Anfrage sagt, „dass Kriminalromane ruhig nichtalltägliche Protagonisten haben dürfen, es geht schließlich meistens auch um nichtalltägliche Fälle“. Und, auch darauf weist Neuenkirchen hin, es gibt Inspektorinnen bei der japanischen Kripo, der Dienstgrad Grad Satos befindet sich in der Mitte der Hierarchie und sie wird von ihrem Vorgesetzten sexistisch diskriminiert. Genug Realität also. Und wir wollen uns ja auch nicht langweilen.
Und Langeweile haben wir bestimmt nicht mit Yuka Sato; sie ist trotz kleiner Schwächen eine sehr gelungene, überzeugende Figur, mit der sich die LeserInnen identifizieren können. Dies gilt auch für den Protagonisten Shun Nakashima, über den wir hoffentlich im nächsten Band mehr erfahren, und ein Stück weit auch für den Pathologen Kawase. Sie alle sowie ihre Beziehungen zueinander haben ein hohes Entwicklungs-Potential. Es gibt aber noch eine (gar nicht so) geheime Protagonistin, und das ist die Stadt Tokyo. Wir erfahren geradezu eine Unmenge über die japanische Hauptstadt, über fiktiv-reale Master Master Please Cafés, Nudelrestaurants und Bars der Nachbarschaft, über real existierende Udon- und Soba-Nudeln, über Shōchū (eine Art von japanischem Wodka) aus Reise, Gerste oder Süßkartoffel, über „das Shibuya für kleine, alte Damen“, die Parks und vor allem die U-Bahn-Strecken, deren Länge der Autor in fast schon irritierender Weise stets in präzisen Minutenangaben referiert: Man merkt, hier schreibt einer, der die Stadt kennt, inklusive der U-Bahn und vor allem deren Fahrplan. Das – ebenso so wie die zahlreichen Informationen zu Alltag und Kultur – zeugt von journalistischer Genauigkeit und einem Detailreichtum, der manchmal fast übertrieben erscheint, der aber andererseits ein nuancenreiches, farbiges Bild von Tokyo entstehen lässt und einen interessanten Einblick in den Alltag der japanischen (Stadt)-Gesellschaft gibt. Vor allem in Bezug auf die „Protagonistin“ Tokyo tritt der weiter oben erwähnte Zwiespalt Sachbuch/Roman zu Tage. Vielleicht ist der Roman stellenweise oder auf bestimmte Weise zu sehr Sachbuch. Kein Wunder bei einem Autor, der eine sicherlich sehr lesenswerte Gebrauchsanweisung für Japan (im Piper Verlag erschienen) geschrieben hat. Andererseits: Wieso nicht mal einen Roman als Reiseführer nutzen?
Diese kleine Unstimmigkeit schmälert aber keinesfalls das Vergnügen der Lektüre. Die LeserIn möchte fast mit Yuka Sato denken: „Erst Karaoke und nun Kendo. Was kam wohl als Nächstes? Eine Partie Go für einen Gefangenaustausch? Eine Runde Mau-Mau um Leben und Tod?“
An Überraschungen mangelt es nicht bei dieser an spannenden Szenen reichen Romanhandlung, auch nicht an Witz. Die Story ließe sich auf einer weniger vordergründigen Ebene zugleich als eine Art Entwicklungs-Geschichte lesen: die ProtagonistInnen Yuka Sato und Shun Nakashima laufen sich allmählich warm in diesem Roman und gewinnen zunehmend an Kontur. Vor allem Yuka Sato wächst immer mehr in ihre Rolle hinein und läuft beim finalen Showdown zu Hochform auf. Dieses Buch legt man nicht zur Seite, und schon gar nicht an dieser Stelle. Andreas Neuenkirchen weiß, wie man Spannung erzeugt und wie man sie aufrecht erhält bis zum Schluss.
An diesem Japan-Roman fasziniert also nicht nur die Story (die auch mit etwas weniger Toten und weniger Yakuza-Verwicklungen funktioniert hätte), sondern vor allem die ProtagonistInnen Yuka Sato, Nakashima, Kawase und: Tokyo. Eine durch und durch vergnügliche Lektüre. Am Ende will man als LeserIn nur eines: Yuka Sato und Shun Nakashima weiter bei ihrer Arbeit im faszinierenden Tokyo zusehen. Wir warten nun ungeduldig auf den Tokyoter Sommerkrimi.
Links:
Making of: Yoyogi Park und Harajuku
Tokyo Metropolitan Police Department
Tags: Belletristik: Krimi, Japan
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