Dienstag, 29.01.2008 | 15:48 Uhr

Autor: molosovsky

Susanna Clarke: »Die Damen von Grace Adieu«, oder: Ein edles Tröpfchen des berauschenden Weins der Magie (Teil 1)

Hinweis: Um die Fußnoten lesen zu können, klicken Sie bitte unten auf ›Rest des Eintrages lesen‹.

Welch eine Freude! Was für eine Wohltat, wie die Bücher der Engländerin Susanna Clarke mittlerweile bei uns in Deutschland aufgenommen wurden, sowohl bei den Genre-Lesern, als auch von der Zunft der berufsmäßigen Literaturmeinungsverbreiter in Großmedien und Feuilletons. So jubelt beispielswiese Denis Scheck für die TV-Sendung »Druckfrisch«:

Susanna Clarke hat eines jener raren Bücher geschrieben, die uns daran erinnern, dass die Realität nur der Ort des Eskapismus derjenigen ist, die für das Reich der Magie nicht stark genug sind.

Aber, in beiden Lagern (bei Genre-Fantasygründlern und ›sonstigen‹ Belletristikgourmets) äußerte man verschiedentlich auch Befremden oder Unwohlsein über einige Eigenschaften von Clarkes Roman. Befremdet zeigte sich auch eine angesehene englische Literatin[01], die Clarke im Vorfeld der Veröffentlichung von »Jonathan Strange & Mr. Norrell« zwar begeistert bescheinigte, einen außergewöhnlich guten Roman vorgelegt zu haben, aber Clarke solle das Buch doch besser nicht selbst freimütig als ›Fantasy‹ bezeichnen, dass würde ja die anspruchsvolle oder ernste Leserschaft auf falsche Fährten locken und verschrecken. Diese Denkfigur ist ja bekannt: wenn ein Buch gute Literatur ist, dann kann es keine Genre-Fantasy sein. (Und ergänzend das andere in meinen Augen genauso dumme Vorurteil: Fantasyleser können eigentlich niemals wirklich ›ernsthafte‹ oder ›anspruchsvolle‹ Leser sein.)

Natürlich sind Einwände gegen die prägnanten Eigenschaften solch guter Literatur wie »Jonathan Strange & Mr. Norrell« nicht immer gänzlich kraftlos. Wer auf einen zügigen Fortlauf und klaren Bezug von Ereignissen wert legt, wer positive, leicht zu handhabende Rollenverteilung bevorzugt, wer mehr eine Schwäche (oder grad eben eher Gelegenheit) für ›Auf Sie mit Getöse‹-Äktschn und verlässliche Achterbahn-Thrill- und/oder Gefühlskissen-Einlagen hegt, wird hart und wohl weitestgehend freudlos an »Jonathan Strange & Mr. Norrell« zu knabbern haben, und nach einigen hundert Seiten beiseit legen. Wem es so ergeht, ist nicht automatisch ein schlechter oder dummer Leser. Man outet sich halt nur, ein ungeduldigerer Leser in Sachen ›Worum geht’s denn nu?‹-Haltung zu sein.

Da ist es bequem, dass sich die nicht oft bietende Gelegenheit auftut, und man sich wie bei einem guten alten Rollenspiel-Buch[02] auf, in diesem Fall, zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen in eine Fantasywelt begeben kann:

  • Möchtest Du lieber in einem munter ausufernden dicken Roman versinken, dann greife zu »Jonathan Strange & Mr. Norrell«.
  • Wenn Du elegant geschnürte Kurzgeschichten vorziehst, dann gib Dich den »Die Damen von Grace Adieu« hin.

Leider wurde für die deutsche Ausgabe nur das ornamentale Blumenmotiv des Umschlags übernommen, die restlichen, entzückend anmutigen Illustrationen von Charles Vess[03] der hiesigen Leserschaft aber traurigerweise vorenthalten. Da blühen Prunkwinden, Sterne und Vollmond kehren mehrmals wieder, Eulen im Flug; zwei der drei Damen von Grace Adieu halten sich beschwörend an den Händen, die dritte betet, alle tragen typische Regency-›Elfenkleidchen‹ mit Kaschmirschultertuch, Puffärmeln und gesogten Bündchen; aus einem Buch klettern kleine Kobolde und ranken sich belaubte Ästchen; ein kleiner Junge steht auf der Mauer einer Turmruine umflattert von einem Rabenschwarm; nächtliche Hügel mit Hirsch, Hundemeute und rufenden Gestalten im Nebel; eine junge Frau mit Haube und Korb guckt in einem dichten Wald durch einen schmalen Ausblick auf einen Weg der zu Steinkreisen und einem ummauerten Turm führt; an einem Kirchturm fliegt ein kleines Schiffchen mit drei fröhlich musizierenden Engelsmännekens vorbei; Mary of Scottland sitzt vor einem Gobelin und stickt mit finsterem Blick; drei Heilige schauen ehrfurchtsgebietend auf den Betrachter herab.

Zuerst spricht ein gewisser Prof. James Sutherland (im Jahre 2006 Direktor für Sidhe-Studien[04] an der Uni Aberdeen) zu uns, als Autor des Vorwortes und Herausgeber der Kollektion, später noch mal als Erzähler/Bearbeiter einer der Geschichten. Die magisch-historische Alternativwelt von Clarke umfasst sich nicht nur die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit bis zum Regency. Laut Sutherland soll DVGA zum einen helfen, die Entwicklung der Zauberei auf den Britischen Inseln zu verstehen, zum zweiten dem Leser einige Einblicke und Rat liefern betreffs des Umgangs mit Elfen sowie deren schwer durchschaubaren Manipulationen menschlicher Angelegenheiten.

In dem Roman »Jonathan Strange & Mr. Norrell« ist Zauberei ja zuvörderst eine Männer-, genauer gesagt eine Gentleman-Angelegenheit, und der Erzählungsreigen ergänzt vorzüglich, da uns (nicht nur) durch die titelgebende Eröffnungsgeschichte »Die Damen von Grace Adieu« (1996) etwas von den weiblichen Zauberkünsten gezeigt wird. Hier lernt man die vielleicht drei fähigsten Zauberinnen des Regency-Englands zur Zeit von »Jonathan Strange & Mr. Norrell« kennen, die in dem kleinen (fiktiven) Kaff Grace Adieu leben, und sich bei ihren abendlichen Unterhaltungen über ihre männlichen ›Kollegen‹ Norrell und Strange uffregen, ansonsten sie als Kindermädchen auf Weisen aufpassen, als Witwe ein angenehmes Dasein pflegen, oder mit Unbehagen über Heiratsfragen grübeln. Der illustre, jüngere Meisterzauberer im Dienste Englands, Jonathan Strange, besucht zusammen mit seiner etwas überdrehten Frau Arabella deren Bruder, den Pfarrer des Ortes. Es kommt zu einer nächtlichen Begegnung im Freien zwischen dem berühmten Zauberer und den drei Damen, die sich zudem noch mit anderen unangenehmen Zeitgenossen herumzuschlagen haben.

In »On Lickerish Hill« (1997) lesen wir die dialektgefärbten Aufzeichnungen von Miranda, einer schlauen jungen Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit dem wenig umgänglichen Sir John Sowreston verheiratet ist. Zum einen schildert die Geschichte eine Variante des Rumpelstilzchen-Märchens, und wie Miranda sowohl ihren Gatten als auch den spinnenden Elfen austrickst. Andererseits ist Miranda auch Gastgeberin eines wuseligen Gelehrtengrüppchens (die Royal Society ist noch in ihren Kindertagen), zu denen auch John Aubrey gehört[05]. Die Herren Gelehrten tummeln sich als Elfenkundler im moorigen Umland, entwerfen Fragenkataloge, für den Fall, dass sie mal einem Elfen über den Weg laufen oder schaffen sollten, einen zu beschwören, und streiten natürlich immerfort leidenschaftlich.

Venetia, die Heldin der Geschichte »Mrs. Mabb« (1998) ringt mit dem Wahnsinn, denn ihr Geliebter weilt mit seinem Regiment in der Ferne im Kampf gegen Napoleon, oder doch nicht? Fiel er nicht vielmehr der Becircung der geheimnisvollen Mrs. Mabb anheim? Insekten spielen eine wichtige Rolle[06] und Venetia verbreitet bei ihren Versuchen die Schliche von Mrs. Mabb zu ergründen Unruhe unter deren Gästen und Familienangehörigen. Ins Irrenhaus eingeliefert zu werden dräut der Verzweifelten als Schicksal.

»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig« (1999) ist der kürzeste Beitrag der Sammlung und lässt den große Helden (eine Art Rockstar seiner Epoche) Lord Wellington triumphieren, indem er es versteht, mit Nadel, Faden und Schere um sein Leben zu kämpfen[07].

»Mr. Simonelli und Der Elfen-Witwer« (2000) kommt in Form von Tagebuchauszügen der Titelfigur daher. Mr. Simonelli, ein junger Protestant italienischer Abstammung, nimmt, um den unaufhörlichen Intrigen Cambridges zu entkommen, eine Stelle als Landpfarrer an. Dort lernt er John Hollyshoes kennen, einen ihm bisher unbekannten Verwandten, der in dem heruntergekommenen Anwesen Allhope lebt. Hier treibt Clarke das Scharadenspiel zwischen Elfenprunk und tatsächlichem Verfall am weitesten, und Simonelli findet sich zu seiner Überraschung in der Rolle es beherzten Frauenretters wieder.

»Tom Brightwind oder Wie die Brücke in Thoresby gebaut wurde« (2001) ist die munterste Geschichte, mit den tollsten Zaubereikunststückchen. Herausgeber James Sutherland erzählt auktorial (mit Fußnoten) von einem im Jahre 1780 spielenden Abenteuer der Freunde David Montefiore, einem betont vernünftigen jüdischen Arzt, und Tom Brightwind, einem wohlhabenden Elfen, geschlagen mit einer quirligen Rasselbande junger Prinzessinstöchter.

»Antickes & Frets« (2004) handelt von der Konkurrenz zwischen Elizabeth I. und Mary von Schottland. Mary sinnt auf Rache und Thronübernahme und gibt sich zu diesem Zwecke alle Mühe, von der Heiratskarrieristin Bess Hardwick zu lernen, wie man mittels Stickereien Leute killt.

Zuletzt widmet sich Clarke/Sutherland mit »John Uskglass und der Cumbrische Kohlenbrenner« (2006) dem legendären Rabenkönig, dem mittelalterlichen Champion der englischen Zauberei, der schon in »Jonathan Strange & Mr. Norrell« eine wichtige und verrufene Rolle inne hat. Der junge Rabenkönig Uskglass verbreitet leichtfertig Chaos auf einer Waldlichtung, dem Zuhause eines einfachen Kohlenbrenners und seines Schweins. Der Kohlenbrenner will Vergeltung und klappert dazu die nächstgelegenenen Kirchen ab, wo die Heiligen (St. Kentigern, St. Barbara & St. Oswald) aus ihren Glasmalereihimmeln herabsteigen, um mit perfiden Zauberein dem aus Leichtsinn rücksichtslosen Uskglass erzieherische Lektionen zu erteilen.

Letztes Jahr habe ich gemosert wegen zu schnell und unbedacht gezogener ›Typisch Englisch, halt so wie bei Charles Dickens‹-Vergleiche. Bei Clarke kann aber auch ich solchen Vergleichen mit den üblichen Verdächtigen zustimmen: Clarkes alternativgeschichlich-magischer Weltenwurf verdankt nicht wenig den Romanen von Dickens und Jane Austen, denn Charakterzeichnung und die Schilderungen komplexer Standes- und Gesellschaftsregeln ist mehr Raum gewidmet, als knalliger Äktschn, und sind auf anregend durchdachte Art mit den magischen Vorgängen verbandelt. Clarke zeigt sich in ihrer Kurzgeschichtensammlung als meisterhafte Stimmenimmitatorin, die scheinbar mühelos die manchmal formelhaften Schematas von Märchen zu überraschend zu varieren und neuzubeleben versteht, mit dem für Kleinigkeiten aufmerksamen Alltags-, Konversations- und Sehnsuchtshin- und her, durch das eben die Romane von z.B. Thackery, Austen oder der Brontegeschwister zur Weltliteratur aufstiegen. Zwischen diesen beiden Erzählkonventionen pendelnd (Märchenfantasy hie, realistische Gesellschaftsprosa da), gelingt es Clarke spielerisch, ihre Leser und Protagonisten amüsant an der Nase herumzuführen und zu überraschen.

{Hier geht es zum zweiten Teil meiner Susanna Clarke-Empfehlung, über den Roman »Jonathan Strange & Mr. Norrell«.}

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Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2007 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter.

>>>> Hier gehts zum Trailer der Sammelrezi mit Introdubilo und Warentrenn-Überleitungen.

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»Die Damen von Grace Adieu« (engl. »The Ladies of Grace Adieu«, mit Illus von Charles Vess, Bloomsbury 2006), übersetzt von Anette Grube, 300 Seiten; Gebunden Bloomsbury Berlin (2006) ISBN-13: 9783827006882; Taschenbuch bei Berlinverlag (2008) ISBN-13: 9783827006882.

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ANMERKUNGEN
[01] Eine launische Spekuation: Ich habe die vorzügliche und streitbare Dame A.S. Byatt im Verdacht. ••• Zurück

[02] Ich sag nur: »Der Einsamer Wolf«– oder die Steve Jackson Games-Reihen. ••• Zurück

[03] Einen willkommenen Werkstattbericht mit einigen Vergleichen zwischen Bleistiftentwurf und Tuschefederreinzeichnung kann man in Vess’ Blog genießen:
http://greenmanpress.com/news/archives/59#
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[04] Sidhe: Keltisches Wort für Elfen, das sich von ›Hügel‹ ableitet. ••• Zurück

[05] John Aubrey (*1625, †1697): Autor des kuriosen Buches »Brief Lives« (»Lebensentwürfe«, Buch 114 der Reihe »Die Andere Bibliothek«, Eichborn 1994), von dem sich auch schon Gaiman den Titel für einen seiner »Sandman«-Sammelbände (Band 7 wird deutsch als »Kurze Leben« erscheinen) entliehen hat. ••• Zurück

[06] Geglückte Insekten/Elfen-Darstellung sah ich zuletzt im grandiosen del Toro-Film »Pans Labyrinth«. ••• Zurück

[07] Diese Geschichte war ursprünglich ein Beitrag für »A Fall of Stardust« von Neil Gaiman & Charles Vess, einer kleinen Gallery-Mappe aus dem Universum von »Der Sternenwanderer«, dessen endlich auch auf Deutsch erschienene, mit 400 Zeichnungen illustrierte Prachtversion von mir z.B. hier bereits empfohlen wurde. Mehr über die kreativen Bande zwischen Susanne Clarke und ihrem ›Entdecker‹ Neil Gaiman kann in der längeren Fassung dieser Besprechung in »Magira 2007«, oder der Molochronik nachgelesen werden.

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Ein Kommentar

  1. Susanna Clarke: Die Damen von Grace Adieu « LeseLustFrust Says:

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