Dienstag, 20.12.2011 | 10:33 Uhr

Autor: hedoniker

Joe Brainard „Ich erinnere mich“

Mit Ich erinnere mich erscheint das vielleicht liebenswerteste Buch des Herbstes

Joe Brainard gehörte in den sechziger Jahren zur New Yorker Künstlerszene – der New York School -, seine Werke bewegen sich im Einflusskreis der Pop Art, er zeichnete Comicstrips und fertigte Bühnenbilder. Als Literat erlangte er dann 1970 mit I remember Aufmerksamkeit, zwei weitere Teile folgten in den darauffolgenden Jahren.

Nach mehr als 40 Jahren wird die ungewöhnliche Autobiographie von Joe Brainard dem deutschsprachigen Leser erstmals zugänglich macht.

Auf den ersten Blick wirkt der Text verwirrend.

Ich erinnere mich an rosarote Zuckerwatte und das klebrige Gefühl danach.

Ich erinnere mich, dass ich plötzlich darauf achtete, „wie“ ich meine Zigarette in Homo-Bars hielt.

Ich erinnere mich, dass ich versuchte, ein Pflaster mit einem einzigen Ruck abzureißen.

Die Struktur ist vordergründig einfach. „Ich erinnere mich …“ – Mit diesen Worten beginnt jede der rund 1500 Miniaturen.

„Ich erinnere mich“ entzündet aber schnell ein Feuerwerk der Erinnerungen, das keiner Chronologie oder thematischer Einordnung gehorcht, keine durchgehende Handlungsebene besitzt. Und doch ergeben die einzelnen Erinnerungsstücke ein Bild eines jungen Mannes, das klarer und figürlicher ist, als es manch Autobiographie in klassischer Textform zu zeichnen vermag. Die Entdeckung seiner Homosexualität hat dabei gleichberechtigt neben Erinnerungen an Familie, an Fernsehshows und Filme oder an Gerüche und Geschmäcker Platz. Nichts in seinen Erinnerungen scheint geschönt und doch zieht sich eine Leichtigkeit durch das Buch, das voller Wärme, Komik und Lebensfreude steckt.

Ich erinnere mich an das Schokohäschen-Problem: Wo fängt man an?

Ich erinnere mich, dass ich in Laubhaufen sprang, und an den Staub, oder was immer dabei aufgewirbelt wurde.

Ich erinner mich an ein Mädchen in Dayton, das mir „beibrachte“, was man mit der Zunge macht. Wie sich aber herausstellte, war es definitiv das, was man nicht mit seiner Zunge machen sollte. Es hätte tatsächlich schlimme Folgen haben können (Ersticken).

„Ich erinnere mich …“ sind aber auch die Worte, die den Leser mit seinen eigenen Erinnerungen konfrontieren. Brainards Gedankenkosmos ist nicht nur seine eigene Biographie, es ist die Biographie von uns allen. Jeder wird zahlreiche Momente entdecken, die die eigenen sein könnten. Beim Lesen schweifen die eigenen Gedanken permanent ab, zurück in die eigene Vergangenheit. Dabei ist die geografische Distanz – Brainards Erinnerungen führen zurück nach Tulsa, Boston und New York, meine nach Dessau, Leipzig und Hannover – vollkommen unerheblich.

Ich erinnere mich, dass ich die Eiswürfelbehälter bis obenhin mit Wasser füllte und dann, ohne etwas zu verschütten, zum Kühlschrank zurückzutragen versuchte. Daran erinnere ich mich. Und daran, wie unpraktisch das eigentlich war, weil der Einsatz niedriger als der Eiswürfelbehälter war und deshalb das Eis zu einem Block zusammengefroren war, den man nur schwer auseinanderbrechen konnte. Und ich erinnere mich, dass wir damals einen Kühlschrank mit Holzverkleidung besaßen, und dass …

Paul Auster, der das Vorwort beisteuerte, schreibt über das kleine Meisterwerk: Es ist eines der seltenen Bücher, die einen ein Leben lang bereichern. Es ist eines der Bücher, die niemals ausgelesen sind. Ich erinnere mich kann immer wieder an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen werden, der Leser wird aufs Neue überrascht. Von Joe Brainards Welt und von seiner eigenen.

Joe Brainard – Ich erinnere mich

208 Seiten
12,5 x 18,0 cm
Mit einem Vorwort von Paul Auster
gebunden
Übersetzt von Uta Goridis

ISBN 978-3-03774-040-8
20.00 CHF / 14.95 EUR [D] / 15.40 EUR [A]

Erschienen bei Walde & Graf

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