Mittwoch, 04.01.2012 | 21:48 Uhr
Autor: Immo Sennewald
Schon bei flüchtiger Durchsicht dieses Buches zieht man vor dem Autor respektvoll den Hut: Thomas Schaufuß, geboren 1949 in Leipzig, hat eine eindrucksvolle Arbeitsbiographie Ost, und er hat sich mit fast vierzig nach seiner Ausreise aus der DDR nicht nur als Unternehmer behauptet, er hat auch geforscht, studiert, gesammelt, sich Wissen für seinen zeitgeschichtlich bedeutenden Text angeschafft. Der Titel klingt nach Kunstleder: “Die politische Rolle des FDGB-Feriendienstes in der DDR – Sozialtourismus im SED-Staat”, von 470 Seiten bestehen gut die Hälfte aus anhängenden Dokumenten und der Bibliographie, aber nicht nur Fachleute kommen bei der Lektüre auf ihre Kosten: Geschichte und Geschichten des gewerkschaftlich organisierten Urlauberwesens ergeben ein vollständiges und facettenreiches Bild, es wird durch zahlreiche historische Illustrationen noch anschaulicher.
Die Archivalien der DDR–Gewerkschaft – Berge von Papier – stellten den Autor vor Probleme: sie sind zwar seit 1990 zugänglich, aber unsystematisch abgelegt, kaum erschlossen, und Statistiken aus dem SED-Staat sind mit Vorsicht zu genießen: Schlamperei und Schönfärberei gehörten zum Geschäft. Es gelingt ihm trotzdem, den Weg von den Anfängen der Erholungsheime für Arbeiter, vom offiziellen Vorbild in der Sowjetunion über das “heimliche Vorbild” KdF – “Kraft durch Freude” – den organisierten Arbeitnehmertourismus im Dritten Reich – bis zu den wachsenden Dienstleistungen des FDGB in den 80er Jahren nachzuzeichnen.
Schaufuß beleuchtet die Finanzierung, die politisch-ideologische Ausrichtung, das Kulturangebot, das Verteilungssystem mit seinen Kungeleien und Ungerechtigkeiten, Privilegien von SED- und Stasi-Kadern, er beschreibt Kreuzfahrten mit der “Völkerfreundschaft”, mit dem vom ZDF 1985 erworbenen vormaligen “Traumschiff” “Arkona”, er belegt, wie diese Schiffe das System strapazierten. Er berichtet über die Überwachung von Touristen aus dem Ausland in FDGB-Heimen und – pars pro toto – über die letzten zehn Jahre im relativ neuen und gut ausgestatteten FDGB-Heim “Fichtelberg”. Dort, im Erzgebirge, war Schaufuß jahrelang gastronomischer Direktor. Er erlebte, wie die Ansprüche der Gäste an die Qualität von Übernachtungen und Verpflegung wuchsen, die Mangelwirtschaft der DDR dem politisch motivierten Versorgungsauftrag aus dem Politbüro aber immer weniger gerecht wurde. Er kennt Freuden und Leiden des DDR-Urlaubers aus nächster Anschauung, er hat den Spitzelapparat erlebt und schließlich das Scheitern der “Fürsorgediktatur”. Thomas Schaufuß kennt sich aus mit ihren inneren Widersprüchen, mit der relativen Stabilität, den Verklärungsversuchen, den hartnäckig fortexistierenden Seilschaften.
Soll ich anmerken, dass die Sprache des Autors bisweilen seine Jahre in der DDR-Wirtschaft durchscheinen lässt, die Mitarbeit in Facharbeitsgruppen der FDGB-Führung etwa, weil sie hölzern daherkommt, als “Normsprech”, mir selbst noch in unangenehmer Erinnerung? Dies mindert die Qualität des Buches schon deshalb nicht, weil der Autor Qualität durch Genauigkeit erreicht, sich jeglicher Eitelkeit ebenso enthält wie der Versuchung persönlicher Abrechnungen – und genau deshalb sehen ganze Verlagsjahrgänge ostalgischer Verklärungsliteratur neben diesem Buch einfach wie Altpapier aus .
Thomas Schaufuß Die politische Rolle des FDGB-Feriendienstes in der DDR.Sozialtourismus im SED-Staat. Mit Geleitworten von Vera Lengsfeld / Klaus Schroeder.Tab., Abb.; XXIV, 469 S., Verlag Duncker & Humblot, Berlin 38,80 € oder als E-Book lesbar bei paperc.de
Tags: FDGB, Feriendienst, Ferienheim, Interhotel, KdF, Kreuzfahrt, Ostsee, Sozialismus, Stasi, Tourismus, Traumschiff, Urlaub, Urlauber
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