Montag, 09.03.2009 | 22:00 Uhr
Autor: Andreas Schneider
(Von Andreas Schneider) Enno Stahl studierte Germanistik, Philosophie und Italianistik (promovierter Dr. Phil. seit 1997) wie im Klappentext zu seinem jüngsten Buch „Diese Seelen“ zu lesen ist. Ihn zu charakterisieren ist nicht ganz einfach. Vielleicht so viel vorab: Enno Stahl ist Rheinländer durch und durch. Und irgendwie auch Kölner. Zumindest ein bisschen. Lange genug gelebt har er in der Domstadt, um sich ein Bild machen zu können vom Rheinländer an sich und damit nicht zuletzt von sich selbst – in einer irgendwie ironisch liebenswürdigen Weise.
Beginnen möchte ich die Rezension mit dem Begriff Neoliberalismus, den Enno Stahl vor einigen Wochen an einem Abend im Electra in Köln öfters zitierte: „Diese Seelen sei ein Buch über die neoliberale Wirklichkeit.“ Der Liberalismus steht für die Freiheit des Individuums innerhalb einer Gesellschaft und deren Wirtschaftsordnung. Der Neoliberalismus ist eine modifizierte Form, wohl aus der Notwendigkeit sich wandelnder Voraussetzungen heraus entstanden in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Soviel zu dem Begriff in aller Kürze.
Enno Stahl wirft seine Protagonist/innen nicht in die Szenerie der neoliberalen Realität hinein wie in kaltes Wasser, er fischt sie exemplarisch heraus aus einem schillernden Schwarm kontrovers handelnder Individuen, die sich in ihrem Bewegungsablauf immer wieder streifen und aus dem Rhythmus bringen werden. Synchronisation gleich Null – neoliberale Individuen eben. In vier Kapiteln stellt er Robert, Tess, Jürgen und Mika (eigentlich Michaela) biografisch vor. Robert, der Soziologe, der sich in seiner eigenen Arroganz verheddert und fatalistisch an der Realität vorbei leben wird. Tess, die sich zu einer Talk-Show-Koriphäe hocharbeitet und irgendwann vermutlich vom Karussell der medialen Eitelkeiten ausgespuckt werden wird. Jürgen, der gerne dies und das geworden wäre, zum Beispiel Fußballprofi oder Fernsehstar, der mit Tess vögelt und trotzdem nicht vorwärts kommt, sich aber mit seinem Leben arrangiert. Und nicht zuletzt Mika, Jürgens Schwester, die unter anderem ihre Begegnung mit dem Krebs wie auch die mit Robert übersteht, jedoch am meisten mit sich selbst und ihrer Entschlossenheit zur Unentschlossenheit zu kämpfen haben wird.
Enno Stahl gelingt es, die Sichtweise(n) der einzelnen Protagonisten (sie tragen in „Diese Seelen“ durchaus antagonistische Züge in sich) plausibel miteinander zu verknüpfen. Es sind zumeist kurze Begegnungen, die Enno Stahl aus der Sichtweise der jeweiligen Personen erzählt. Eine gleichermaßen elegante wie gelungene literarische Finesse. Als Kostprobe vielleicht eine delikate Pointe: Während Tess mit Jürgen schläft, denkt sie, er arbeite an ihr die gängigen pornografische Vorgaben ab, was gar nicht so falsch ist wie sich später herausstellt, denn aus Geldmangel hat Jürgen tatsächlich bei ein zwei Pornos „seinen Mann gestanden“. Jürgen wiederum denkt über diese Nacht mit Tess, er habe mit einer „alten Frau“ geschlafen.
Alles in allem ist „Diese Seelen“ ein Buch, das ich unheimlich gerne gelesen habe. Enno Stahl hat aktuelle Ereignisse aufgegriffen, politische, gesellschaftliche wie auch wirtschaftliche. Dazu die Eckdaten der einen oder anderen „real existierenden“ Person künstlerisch und literarisch einfließen lassen. Das ist ihm wirklich sehr gut gelungen. Und wenn es eine Botschaft gibt, die ich hineininterpretieren könnte, dann vielleicht diese: Der Grad des „Scheiterns“ in der neoliberalen Realität ist relativ und hängt immer davon ab, wie kompromissbereit man seiner eigenen Biografie gegenüber steht und sein Handeln anpasst, anpassen kann.
Erstveröffentlichung auf Das Wortreich am 07.03.09
Tags: Andreas Schneider, Das Wortreich, Diese Seelen, Enno Stahl, Rezension
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