Freitag, 01.12.2006 | 16:02 Uhr

Autor: Serendipity

Reality Literature

„Langsam tröpfelte er die Soyasauce aus dem kleinen Plastikfisch über seine Sashimistreifen. Misha würde der kleine Fisch gefallen. Vielleicht sollte er ihn einstecken und ihm heute Abend mitbringen. Er könnte damit in der Badewanne spielen.
„Also Victor, was gibt es? Warum willst du mich sprechen.“
Damit balancierte er den Tunfisch zwischen seinen Essstäbchen bevor er ihn sich in den Mund schob….“

In London ist in den letzten Tagen ein neues literarisches Genre geboren worden: der erlebte Thriller. In der Tradition von Le Carré, Greene, Brown, Fleming und Forsyth (und wie sie alle heißen), handelt es sich um eine klassische Spionagegeschichte, ausgestattet mit allen verschwörungstechnischen Schikanen einschließlich Vergiftungsmord, radioaktiver Verstrahlung, geheimen Dossiers, regimekritischer Journalisten, internationaler Diplomatie, fadenscheinigen Kriegen und korrupten Großindustriellen.
Im Gegensatz zum herkömmlichen Thriller besteht die Handlung jedoch nicht aus fiktionalisierter Wahrheit sondern aus tatsächlichen Geschehnissen, die der Leser täglich erlebt.

Dieser weltweit erste selbst zu erlebende Roman nahm vor einigen Wochen seinen Ursprung in der Innenstadt von London, hat jedoch die letzten Tage Leser in aller Welt berührt. Manch Literaturkritiker äußerte zwar Bedenken, dass schon im September 2001 in New York und im Juli 2005 in London ein Versuch gemacht wurde den Erlebnisthriller zu etablieren. Es kann jedoch argumentiert werden, dass der Spannungsbogen derzeitiger Geschehnisses, durch ihre spezielle Verwicklung, große Reichweite und die unablässige Zufuhr neuer Handlungsstränge und Informationen, früheren Versuchen überlegen ist.

Trotz des vorweggenommen Todes des (Anti-)Helden und ehemaligen KGB Agenten Alexander Litvinenko, reißt der Handlung durch die Masse an sub-plots in keiner Weise an Spannung ab. Eine stetig zunehmende Zahl Londoner fragt sich derzeit in welchem Kapitel sie selbst in einer Nebenrolle auftauchen wird oder bereits eine Rolle gespielt hat. Vielleicht im nächsten, wenn massenhaft Leute mit Verstrahlung ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Kenne ich nicht jemanden, der im Millenium Hotel arbeitet, war nicht auch ich kürzlich Sushi essen oder bin in Muswell Hill spazieren gegangen? In gleicher Weise überlegen 33,000 Fluggäste auf ihren Wegen quer durch Europa, ob sie in den letzten Wochen neben einem besonders schwitzigen Menschen gesessen, mit einem russischen Akzent zusammengerumpelt sind oder sich auf der gleichen Flugzeugtoilette wie der Mörder unseres Helden erleichtert haben. Bin ich dem Spion vielleicht einmal begegnet? Und dann ist da immer jener Nachbar, der sich ganz wie ein Geheimagent benimmt.

Ich freu mich schon auf das nächste Kapitel, das heute Abend aufgeschlagen wird: Wird der Autopsiebericht neues erklären? … Gute-Nacht-Geschichte.

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Ein Kommentar

  1. Serendipity Says:

    Und wer schreibt schon ein Buch, wenn er gleich ein Hollywood Filmscript schreiben kann.

    Keine zwei Monate nach dem Tod Litvinenkos schreibt Alan Cowell, der Chef des New York Times London Bueros bereits an seinem Tatsachebericht ‚Sasha’s Story: The Life and Death of a Russian Spy‘. Kein Roman, dafuer gibt es wohl bald ein Script, denn die Filmrechte zum Buch hat Warner Bros bereits gekauft, – und an Johnny Depps Produktionsfirma ‚Infinitum Nihil‘ weitergeleitet.
    Ob Depp dann auch die Hauptrolle spielt ist unklar.

    Und wer doch lieber ein Buch liest, der kann sich auf Mr Litvinenkos eigenes Werk freuen:
    Blowing Up Russia
    von Alexander Litvinenko und Yuri Felshtinsky

    In Russland zensiert und angeblich fuer drei Tode verantwortlich kommt die englische Version am 19. Januar 2007 auf den Markt. Darin beschreiben der ex-KGB Spion und sein Historikerfreund die geheimen Machenschaften russischer Politiker, um Russland wieder in einen Staat des Terrors zu versetzen. Thrillerfan und Verschwoerungstheoretiker aufgehoert!

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