Freitag, 09.04.2010 | 11:42 Uhr
Autor: JosefBordat
Veronika Bennholdt-Thomsen und Karlheinz A. Geißler präsentieren in der Oekom-Reihe „Quergedacht“ Alternativen zur allgemeinen Hatz nach Geld und Gewinn
Der Oekom-Verlag hat sich einiges vorgenommen. Mit der Reihe „Quergedacht“ will er in kleinen Bänden die großen Themen der Zukunft ansprechen. In Wirklichkeit sind es sehr kleine 100-Seiten-Bändchen, und die Themen sind tatsächlich sehr groß: Geld, Arbeit, Zeit, Lebensqualität. „Quergedacht“ möchte Orientierung bieten in der Krise, denjenigen unterstützen, dem diese Anlass ist für ein radikales Umdenken im Hinblick auf die genannten Themen. Dazu werden renommierte Autoren mit neuen Ansätzen für eine alternative Denk- und Lebensweise um Stellungnahmen gebeten. Im Ergebnis stehen kompakte Darstellungen, die einerseits zum Genre der Ratgeberliteratur zählen, andererseits wissenschaftlich fundiert sind und daher auch Impulse für den Fachdiskurs bieten. Selbstverständlich können in den Texten nicht alle Argumente diskutiert, alle Pros und Contras gewälzt werden – das unterscheidet sie von einem wissenschaftlichen Beitrag. Natürlich liefern sie mit ihren gewagten Ideen, von denen ihre Autoren behaupten, sie seien zukunftsweisend, keine Patentrezepte, die von heute auf morgen das Leben des Otto Normalverdieners und -verbrauchers änderten. Doch sie liefern Denkanstöße, aus denen erste Schritte zur Veränderung erwachsen können.
Die Soziologin Veronika Bennholdt-Thomsen, die das Bielefelder „Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz“ leitet, zeigt in „Geld oder Leben. Was uns wirklich reicht macht“ wie „gutes Leben“ auch ohne Geld funktioniert. Die Vorstellungen vom guten Leben gehen dabei zwar nicht direkt auf moraltheoretische Modelle zurück, etwa auf die aristotelische Tugendethik, aber dennoch finden sich Tugenden in Bennholdt-Thomsens Vorschlag, die größtenteils als Negationen des Gegenwärtigen gelten können: Beendigung des Wachstumszwangs, Überwindung der Geldgier, Wertschätzung des Handwerks, Stärkung lokaler und regionaler Wirtschaftskonzepte. Diese Anregungen lassen sich zusammenfassen als Kultur des Gebens, in welcher der homo donans den homo oeconomicus und die Subsistenz das Wachstum ersetzt.
Die Realisierungschancen für die interessanten Ideen der Hochschullehrerin dürften jedoch gegen Null gehen, wenn man an globale Zusammenhänge denkt und daran, wer hier in Zukunft den Ton angeben wird und für unsere Gesellschaft damit das produziert, was man „Sachzwang“ nennt. Dennoch wird es nötig und möglich sein, sich Freiräume zu schaffen, um der sozialen Exklusion von zig Millionen Menschen entgegenzuwirken, die in den großen und – gemessen an den makroökonomischen Daten – erfolgreichen Volkswirtschaften Europas im herrschenden Marktsystem ohne Teilhabechance sind. Hier ein „Umsonstladen“, dort ein „Tauschring“ – das ist sicherlich möglich; eine Abkehr vom System ist dafür zum Glück nicht erforderlich. Vielen Menschen wird die Entkommerzialisierung gut tun. Viele ökonomisierte Räume gilt es wieder zu öffnen. Dazu liefert Bennholdt-Thomsen gute Gründe und gute Ideen.
Auch die Zeit gehört „entökonomisiert“. Das fatale Motto unseres Wirtschaftssystems – „Zeit ist Geld.“ –, das die totale Verwert- und Austauschbarkeit des für den Menschen wertvollsten Gutes „Zeit“ suggeriert, muss überdacht werden. Diese These vertritt der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler in „Lob der Pause. Warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind“. Gegen den Höchstgeschwindigkeits- und Gleichzeitigkeitswahn der Wirtschafts- und Alltagswelt setzt Geißler die Kraft von Langsamkeit und Wiederholung. Er entwickelt Ideen jenseits des „Zeitsparens“, das so oft Thema von Ratgebern für ein effizientes Management ist, denn er identifiziert darin ein Paradox: Je mehr wir versuchen, Zeit zu sparen, desto schneller vergeht sie. Statt dessen gilt es, so Geißler, Pausen und Wartezeiten bewusst zu erleben, als Zeiten zum Nachdenken und Verarbeiten, aber auch „einfach“ zum Abschalten – für das kleine Glück zwischendurch.
Geißler spricht ein überaus wichtiges Thema an, das durch die Neuen Medien und die technischen Entwicklungen der letzten Jahre weiter an Brisanz gewonnen hat. Das Paradigma, dass Zeit als wirtschaftlich zu verwertende Ressource zu verstehen ist, muss der Erkenntnis weichen, dass der Preis für diese Lebensweise auf lange Sicht zu hoch ist. Körper und Seele leiden unter der ständigen Hatz, wie sie in Arbeitswelt und „Freizeit“ Alltag ist. Jeder Einzelne ist aufgefordert, Auszeiten bewusst einzubauen. Wie schwer dies in den Erreichbarkeitszwängen unserer Nonstop-Gesellschaft fällt, ist ersichtlich. Geißlers Analyse liefert mit der wichtigen Erkenntnis, dass Zeit nicht Geld ist, sondern Leben, hinreichend Motivation für wichtige Formen der Entschleunigung: das Warten, das Pausieren, das Wiederholen. Das muss man einüben. Auch Langsamkeit will gelernt sein.
Die Bändchen liegen zwischen wissenschaftlicher Abhandlung und praktischem Ratgeber. Wer die Texte ohne allzu große Erwartungen in beide Richtungen liest, den Experten mit Sendungsbewusstsein also einerseits eine gewisse Oberflächlichkeit und den Texten andererseits einen gewissen Utopiegehalt zubilligt, wird nicht enttäuscht. Auch wenn es derzeit mit unser Wirtschaft wieder ein kleines bisschen bergauf geht: Es lohnt allemal, sich auf die Mischung aus Essay, Programmschrift und Lebenshilfe einzulassen, die zu dieser eine Alternative aufzeigt.
Bibliographische Daten:
Veronika Bennholdt-Thomsen: Geld oder Leben. Was uns wirklich reicht macht
München: oekom verlag (2010)
93 Seiten, 8,95 EUR
ISBN-13: 978-3-86581-195-0
Karlheinz A. Geißler: Lob der Pause. Warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind
München: oekom verlag (2010)
108 Seiten, 8,95 EUR
ISBN-13: 978-3-86581-200-1
Josef Bordat
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