Samstag, 08.10.2011 | 18:42 Uhr

Autor: JosefBordat

Neues Denken

Hans-Peter Dürr wirbt für eine Welt im Wandel – zurück zum Leben

 

Dass es so nicht weitergeht, diese Erkenntnis lässt sich leicht jedem zweiten Stammtischgespräch entnehmen. Dafür allein braucht es keine Buchpublikation. Was der ehemalige Heisenberg-Assistent und Träger des Alternativen Nobelpreises, der Physiker Hans-Peter Dürr in seinem neusten Buch mit dem vielversprechenden Titel Das Leben lebendiger werden lassen. Wie uns neues Denken aus der Krise führt vorträgt, geht denn auch weit darüber hinaus. Denn es versucht die Frage zu beantworten, wie es denn stattdessen weitergehen könnte. Die tiefschürfende Antwort beschreibt einen Weg zurück zu einem sinnvollen Verhältnis von Mensch, Natur und Technik, der abkehrt von technokratischer Hybris, totaler Ökonomisierung und zynischer Selbstüberschätzung.

 

Der Umwelt- und Friedensaktivist Dürr, bisher als Autor vor allem durch das breite Spektrum der in seinen Schriften verhandelten Themen aufgefallen, bündelt dazu die krisenhaften Zustände der Globalgesellschaft (Klima, Krieg und Kapital) zu einer Gesamtschau, die verdeutlicht, wie die naturphilosophische Prämisse des Materialismus zu Fehlentwicklungen in allen Bereichen führte. Diese gelte es zu überwinden, durch „neues Denken“.

 

Das neue Denken, durch das unser Leben wieder lebendiger wird, ist laut Dürr quantenphysikalisches Denken, das zu der Einsicht führt, eine rein materialistische Beschreibung der Welt reiche nicht hin, da sich im Innersten dieser Welt weniger das Stoffliche als vielmehr das Geistige finden lasse, das die Beziehung zum Prinzip des Zusammenhalts mache. Dies könne zu einer neuen Beziehungskultur anregen, sowohl im Umgang des Menschen mit der Natur und der Technik, als auch der Menschen untereinander.

 

Die Welt ist also kein streng kausal-deterministisch erfassbares Materiesystem, sondern ein offener Möglichkeitsraum, der Kreativität und Lebendigkeit in sich trägt. Dabei sind in dieser lebendigen Welt die Prinzipien eines „lebendigeren Lebens“ ebenfalls bereits eingetragen Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit. Sie müssen nach ihrer Erkenntnis in der Welt nur auf die unterschiedlichen Lebensbereiche der Gesellschaft angewandt werden.

 

Dazu präsentiert Dürr im Hauptteil des Buches ein „Wörterbuch des Wandels“, das sich zum einen wichtigen Lebensbereichen wie der Arbeit, der Wirtschaft und der Wissenschaft widmet, zum anderen Kernkonzepte des neuen Denkens (Nachhaltigkeit, Transzendenz, Verantwortung) erläutert, die sich auf den Konfliktfeldern bewähren müssen. Vor allem die Nachhaltigkeit sei entscheidend im Kontext der „Zukunftsfähigkeit“ des „ganzen Menschen“ mit „all seinen physischen, geistigen und emotionalen Potenzialen“. Das Problem: Die „gewisse Schwammigkeit“ des Begriffs. Diese konzeptionelle Schwierigkeit kann auch Dürr nicht ganz ausräumen, bestimmt er Nachhaltigkeit doch als Resultat einer „offenen, aufmerksamen, umsichtigen, flexiblen, kreativen, einfühlenden und liebenden Lebenseinstellung“, die nicht verordnet werden könne, sondern getragen sein müsse von „verantwortungsbewussten Menschen“, realisiert im Rahmen „zivilgesellschaftlichen Engagements“. Das ist nicht weniger schwammig.

 

Doch schlägt man nun bei „V“ wie „Verantwortung“ und „Z“ wie „Zivilgesellschaft“ nach, erfährt man etwas genauer, was der Autor damit meint. Er plädiert in Sachen Verantwortung für einen weiten Wissensbegriff, der auch religiöse und kulturelle Erfahrungen aufnimmt und Emotionen nicht ausblendet. Damit die Zivilgesellschaft funktioniert, also ihre Rolle bei der Rettung von Mensch und Welt spielen kann, regt er „eine weitgehende Dezentralisierung“ an, wobei die kleinen Gruppen untereinander in Solidarität vernetzt sein sollten. So kann es schließlich gelingen, die Zukunft sinnvoll zu gestalten.

 

Die Zukunft – darum geht es. Die Quantenmechanik, so Dürr, lege nahe, dass sie, die Zukunft, offen, also gestaltbar ist. In der modernen Physik gebe es „keine zeitlich durchgängig existierende, objektivierbare Welt“ und die Naturgesetze, die man stets als ebenso feste wie bestimmende Größen begriff, lägen auf dem Niveau von Wahrscheinlichkeitsaussagen. Daher sei es unmöglich, „das zukünftige Geschehen eindeutig vorherzusagen“. Dürrs Schlussfolgerung: Wir können und sollen so handeln, „als ob noch alles möglich wäre“.

 

Hans-Peter Dürr argumentiert stringent und überzeugend gegen die selbstgenerierte Enge des positivistischen Weltbilds, gegen einen deterministischen Materialismus und damit für eine Zukunft, die offen ist und in der es uns möglich sein kann, zum Einklang mit der Natur und mit uns selbst zurückzufinden. Was „einer der bedeutendsten Querdenker unserer Zeit“ zu den Krisen der Welt und ihrer Überwindung zu sagen bzw. zu schreiben hat, ist lesenswert, vor allem, weil es nicht bei theoretischen Spekulationen eines „Grenzgängers“ zwischen Physik und Philosophie bleibt, sondern die philosophischen Gedanken zum einen durch ihre naturwissenschaftliche Grundierung gefestigt, zum anderen durch ihren Bezug zur Lebenswelt konkretisiert werden. Das Lebende lebendiger werden lassen – ein Buch, das dazu das nötige Rüstzeug bereitstellt und zum Anfangen ermutigt. Mehr kann man nicht erwarten. Ein Tipp, nicht nur als Futter für die nächste Stammtischdiskussion darüber, dass es so nicht weitergeht. Bestimmt nicht.

 

Bibliographische Daten

Hans-Peter Dürr: Das Lebende lebendiger werden lassen. Wie uns neues Denken aus der Krise führt
München: Oekom (2011)
€ 17,95, 165 Seiten
ISBN: 978386581269

 

Josef Bordat

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