Montag, 08.06.2020 | 03:39 Uhr
Autor: rwmoos
Ende mit Enten
Wie möchten Sie ihre letzten Stunden verleben? Zu Hause? Dort wo sie in einer vertrauten Umgebung sind und vielleicht noch ein paar Ihrer Lieben um sich haben? Wenn aber Ihr menschgewordenes Erbgut bei Ihnen überhaupt nicht als lieb durchgeht?
Dann doch lieber von unterbezahlten Profis medizinisch betreut in einem Krankenhaus oder Pflegeheim das Leben aushauchen?
Über 76% aller Befragten wollen in den vertrauten vier Wänden sterben.
Warum sterben dann über 80% aller Deutschen in einem Krankenhaus oder Pflegeheim?
Weil wir, die Verwandten, die Verantwortung scheuen? Weil wir fürchten, uns selbst vorzuwerfen (oder vorgeworfen zu bekommen), nicht alles Menschenmögliche getan zu haben, damit es doch wieder aufwärts geht? Weil Liebe und Fürsorge doch das Beste will?
Und so verrecken die meisten von uns: Von bezahlten Kräften betreut, die ihrerseits zwar durchaus oft ihr Bestes geben. Aber dennoch finden wir uns am Ende so vor: Zurückgebeamt in den Entwicklungsstand von Babys. An Schläuchen hängend und jeden selbstverschuldeten Lebensrisikos beraubt.
Sicher wie in Abrahams Schoß?
Aus diesem uralten Leitbild ist eine Dystopie geworden.
Gerade weil alle das Beste wollen, kommt es zum Schlechtesten.
Wir sterben weder da, wo wir meinen, hinzugehören, noch so, wie wir Würde definieren.
Deshalb haben die Helden von Leonie Swanns Geschichte einen eigenen Weg gefunden.
…
Für die Dorfbewohner von Duck End gelten die sechs alten Leutchen, die sich zu einer Senioren-WG in dem abgelegenen großen Haus Sunset Hall zusammengeschlossen haben, als wahrhaft merkwürdige Gesellschaft. Irgendwas zwischen Alt-Hippies mit Yoga-Affinität und Wohlstands-Senioren mit Waffenschein – jedenfalls nichts, mit dem man gern zu tun hat. Hinzu kommen noch eine Schildkröte als alteingesessenes und ein Wolfshund als neu eingeschmuggeltes Haustier.
Und in der Tat berührt es auch den lesenden Nichtbürger von Duck End merkwürdig, wie gefasst die restlichen fünf Senioren wirken, als eine der Ihren – mit sauberem Kopfschuss versehen – im Garten aufgefunden wird. Ob es Zufall ist, dass die Verblichene sofort durch einen Neuzugang ersetzt wird?
Deutlich verstörter reagiert die Gruppe aber, als sie unmittelbar darauf von weiteren Morden an anderen Senioren der Umgebung erfährt. Dass man die nun einsetzenden Ermittlungen nicht irgendwelchen offiziellen Polizeibeamten überlassen darf, scheint für die abgerüsteten bzw. halb-rüstigen WG-Mitglieder sehr schnell selbstverständlich zu sein, und so nehmen sie das Heft des Handelns in die eigenen Hände.
Einerseits kommen ihnen dabei ihre beruflichen Lebenserfahrungen und ihre diversen Persönlichkeiten zugute, für die das Wort „schillernd“ passend erscheint (so man es nicht als Hommage an einen deutschen Dichter missversteht).
Andererseits sind nicht nur die diversen körperlichen Gebrechen hinderlich, sondern auch zunehmend mentale Ausfälle.
Die eine hört manchmal nichts, die andere sieht immer nichts und eine dritte äußert ständig nur dummes Zeug. Kennt man irgendwoher.
Die anderen drei Figuren der WG sind zudem auch nicht besser dran.
Das Ganze führt zu einem Stilmittel, aus dem die Geschichte ihre Würze bezieht: Wenn die Hauptfigur Agnes an Tinitus leidet und dadurch große Teile der jeweils fließenden Informationen gar nicht mitbekommt, andererseits zu stolz ist, diese Schwäche zuzugeben und entsprechend häufig nachzufragen, nimmt sie uns in diese Informationslücken mit: Die Geschichte entwickelt sich dadurch auch für den Leser mit unausgefüllten Fugen. Und indem wir uns über diese Fehlstellen in der Informationsübertragung ärgern, erleben wir ansatzweise mit und nach, wie es Menschen wie Agnes wirklich geht.
Was wir aber nicht nacherleben können, sind die damit einher gehenden Selbstzweifel. Denn wir als Leser wissen ja genau, dass diese unangenehmen Fehlstellen für unser Lesevergnügen passgenau manipuliert sind und nicht auf das Versagen unserer eigenen mentalen Kräfte zurückgehen.
Das Thema der Informationslücken zieht sich auch für die anderen Protagonisten durch das ganze Buch: Ob Kurzsichtigkeit, Erinnerungsausfälle oder Zweifel an der gesamten eigenen Persönlichkeitsgeschichte – die Senioren schlagen sich tapfer gegen diese Konzessionen an die eigene Zuverlässigkeit … und konfrontieren sich gelegentlich dann doch mit der süßen Versuchung des Loslassens: Gelinde im Lindenhof-Heim weggepflegt zu werden … dem Ende entgegenzudämmern, indem man den Enten zuschaut … das hat ja auch was für sich …
Natürlich wird der eigentliche Kriminalfall schließlich gelöst, weil die Sechs trotz aller Reibereien, gegenseitiger Kränkungen und Missverständnisse zusammenhalten. Und weil sie den Mut finden, sich nicht nur mit ihrer eigenen Vergänglichkeit, sondern auch mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Swanns neuer Detektivroman scheint zunächst wieder genauso leichthin geschrieben, wie man es von ihr zu erwarten glaubt: Gewürzt mit skurrilen Wendungen und kuriosen Gedankenblitzen. Mit merkwürdigen Zufällen und gespaltenen Persönlichkeitskernen. Im Hintergrund dräuen turbulente Geschichten aus vergangenen Tagen, die nie ganz aufgeklärt werden und den Leser die Fäden gedanklich weiterspinnen lassen, ohne dass er zu klaren Lösungen kommen kann.
Aber noch weiter dahinter – und das ist wohl die eigentliche Stärke dieses Buches – zeichnet sich wie eine stehende Welle die Frage ab, wie wir mit unseren alten und pflegebedürftigen Menschen umgehen. Und wie wir mit uns selbst umgehen, um ein Alter in Würde erleben zu können, auch wenn körperliche und mentale Ausfälle das Leben erschweren: Totenhausen, Friedlindenhof oder doch Sunset Hall?
Für dieses Mitnehmen auf den Weg allen Sterbens bin ich der Autorin dankbar. Da nehme ich gern in Kauf, dass die Stärke dieses Buches – wie so oft – auch eine Schwäche mit sich führt: Indem man sich zwischen der leichthin geschriebenen witzigen Story und dem ernsthaften Hintergrund hin und hergeworfen fühlt, fehlt manchmal ein wenig der „eine Guss“, der eine gute Geschichte sonst auszeichnet. Und bei allem Verständnis für die jeweils gefundenen Lösungen habe ich immer auch ein ungutes Gefühl, wenn mir per Sympathie-Aufbau vorgegeben wird, wo Mord als Lösungsansatz in Frage kommt und wo nicht.
Vielleicht sollte man die entsprechenden Ansätze zumindest als Denkanregung begreifen.
Mord in Sunset Hall – eine lustige Kriminalgeschichte mit einem todernsten Hintergrundrauschen.
Reinhard W. Moosdorf
Tüchersfeld, den 12.05.2020
Tags: Altern, Belletristik: Krimi, Pflegenotstand, Philosophie, Politik
Mit flattr kann man Bloggern mit einem Klick Geld zukommen lassen. Infos