Samstag, 19.06.2010 | 23:14 Uhr
Autor: Lars Schuster
Wie keine andere Wissenschaft berührt die Physik die tiefsten Wurzeln unseres Daseins. Die Einsichten in die Grundlagen der Welt, die sie vom 16. Jahrhundert bis heute erlangte, revolutionierten unsere Sicht auf das Universum, im astronomisch Großen ebenso wie im mikroskopisch Kleinen. Kaum dass es dem Zeitgenossen noch möglich ist, die mannigfaltigen Abhängigkeiten des Alltagslebens vom Fortschritt dieser Wissenschaft auch nur zu erahnen. Doch wie steht es mit eben diesem Fortschreiten? Der US-amerikanische Physiker Lee Smolin hat sich dieser Frage angenommen und kommt zu der auf den ersten Blick paradox anmutenden Erkenntnis einer Stagnation. Trotz der immensen Investitionen von finanziellen und menschlichen Ressourcen scheint der wissenschaftliche Fortschritt der theoretischen Grundlagenphysik in den vergangenen 30 Jahren nahezu zum Erliegen gekommen zu sein. Zur Aufdeckung der vielfältigen Gründe für diese Stagnation holt Smolin weit aus und liefert im ersten Teil seines Buchs eine gut verständliche Einführung in die grundlegenden Probleme, vor die sich die theoretische Physik des 20. Jahrhunderts gestellt sah. Im zweiten Buchteil erläutert er anschließend die Stringtheorie, die den Anspruch erhebt, eben diese Probleme zu lösen. Und genau da setzt Smolin mit seiner Kritik an, denn seiner Ansicht nach weist der String- bzw. Superstringansatz seinerseits nicht unbeträchtliche Schwächen und Defizite auf, die im dritten Buchteil ausführlich diskutiert werden.
So weit, so bekannt. Bekanntlich lästerte schon Richard Feynman über den Hang der Stringtheoretiker, die Zahl der Raumdimensionen willkürlich festzusetzen, um sie für die eigene Theorie nutzbar zu machen. Und so unterscheidet sich Smolins Buch bis zum dritten Teil nur in wenig von den übrigen auf dem Markt erhältlichen populärwissenschaftlichen Zustandsbeschreibungen der Physik. Doch Smolin geht weiter: sorgfältig analysiert er im vierten Buchteil die Ursachen der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Stringtheorie, die er vor allem im sozialen Forschungsumfeld der Wissenschaftler ausfindig macht. Dabei bedient er sich der grundlegenden Unterscheidung Thomas Kuhns zwischen Normalwissenschaft und Paradigmenwechsel. Diesen entsprechen, so Smolin, zwei Charaktertypen von Physikern: dem wissenschaftlichen Handwerker der Normalwissenschaft einerseits und dem Seher andererseits, dessen Visionen unerlässlich für den fortschrittstreibenden Paradigmenwechsel sind. Ein gesunder Wissenschaftsbetrieb bedarf beider Charaktertypen, die sich zwar ablehnend gegenüber stehen, gleichwohl einander aber notwendig bedingen. Die Ursache für die gegenwärtige Stagnation der Physik sieht Smolin nun in der Dominanz der Handwerker im physikalischen Wissenschaftsbetrieb. Während die großen theoretischen Revolutionen der Physik im 20. Jahrhundert – Relativitätstheorie und Quantenmechanik – von philosophisch ambitionierten Visionären entwickelt wurden, erlangten im Zuge der Verlagerung des Zentrums des Physikbetriebs von Europa nach USA in den 1940er Jahren sukzessive die Handwerker die Oberhand. Originelle Denker jenseits des Mainstreams bekamen seither kaum mehr eine Chance auf eine akademische Karriere. Entsprechend bleiben wichtige Innovationsimpulse aus, der Wissenschaftsbetrieb gerät in die Stagnation. Nur durch eine Öffnung des physikalischen Forschungsbetriebs für bislang randständige Positionen und die Bereitschaft zu echter Innovation ist es Smolins Ansicht nach möglich, den Fortschritt neu zu beleben.
Smolins leicht zugängliches Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Außenseiter der Physik und ihre Ansätze jenseits der Stringtheorie. Durch seinen Perspektivenwechsel weg von den Inhalten, hin zu den sozialen Bedingungen moderner Forschung eröffnet es dem Leser gänzlich neue Einblicke in einen Betrieb, die von Außenstehenden sonst nur schwerlich gewonnen werden können. Überaus empfehlenswert!
Deutsche Verlags-Anstalt 2009, ISBN 3421042969
Hardcover, 494 Seiten, 24,95 €
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22.06.2010 um 22:22 Uhr
Diese Rezension gefällt mir, weil sie stimmig und gut verständlich ins Thema einführt, sachkundig beschreibt, am Gegenstand Interesse weckt – vielen Dank dafür.
19.07.2010 um 15:53 Uhr
Ja, die Rezension gibt den Inhalt des Buches so gut wieder, dass ich glaube, einen Fehler im Konzept des amerikanischen Autors zu erkennen. Fehler im wörtlichen Sinne. Es fehlt die Erkenntnis, dass das Sujet Physik sich erschöpft hat.
Nach 400 Jahren intensiver Forschung sind alle Gesetze bekannt. Auch die Theorie ist durch Relativistik und Quantenmechanik so weit entwickelt, dass es keine unerklärbaren Phänomene gibt, die von allgemeinem Interesse wären.
Die Teilchenphysik versucht Randerscheinungen zu beschreiben, die, wenn es keine Teilchenbeschleuniger gäbe, nicht existieren würden.
Die Astrophysik ist keine Physik mehr, weil sie weder exakte Messungen noch Experimente kennt; daher hat sie auch bisher kein einziges neues Naturgesetz entdeckt.
Die Stringtheorie ist ganz einfach überflüssig. Sie endet in der Beliebigkeit.
Was bleibt? Zum Beispiel Verschränkungen.
Da können die philosophisch denkenden Einsteins von morgen vielleicht noch was gewinnen. Es lohnt sich noch einmal über den Begriff der Wahrscheinlichkeit und der Wahrscheinlichkeitsamplitude nachzudenken. Dann werden Bezüge zum Leben auftauchen, koordinierte Zufälle, die das Gebiet der Physik verlassen, aber nicht in Richtung Kosmos…
10.09.2010 um 13:32 Uhr
Vielen Dank für die ausführliche Rezension, dank derer dieses Buch auf meine Wunschliste gerückt ist. Bei meinem Vorredner muss ich an den bekannten Direktor eines Patentamtes denken, der um 1900 verkündete, es sei bereits alles erfunden. Die Geschichte hat doch immer wiedr gezeigt, dass bahnbrechende Erfindungen und Erkenntnisse, Theorien und Naturgesetze stets außerhalb des Horizonts der Masse gelegen haben. Warum sollte dieses für die Zukunft keine Gültigkeit mehr haben? Es ist höchst unwahrscheinlich, dass in den nächsten 400 Jahren keine neuen Gesetze beschrieben werden, die von großer Bedeutung sein werden.