Montag, 23.04.2007 | 10:39 Uhr
Autor: Serendipity
Mittelgrosse Aufregung gibt es zurzeit in England um die ‚kompakten’ Versionen klassischer Werke (Tolstoy: Anna Karenina; Melville: Moby Dick, etc), die im May von Orion Books veröffentlicht werden.
Mit dem Slogan „Anna Karenina in half the time“ erhofft sich der Verlag durch die radikale Kürzung der Texte auf die Hälfte oder ein Drittel ihrer Länge, neue Fans für die Klassiker zu rekrutieren. Kritiker (hier>> und hier>>) beschweren sich hingegen, dass ein Verlust der langwierigen Beschreibungen von Walfischen und den politischen Verhältnissen Sibiriens auch ein Verlust an literarischer Tiefe bedeutet. Zudem liegt keine schlüssige Methodologie vor warum bestimmte Stellen gekürzt sind, sie sind in keiner Weise markiert und der Verlag hielt es nicht mal für nötig anzugeben auf welcher Übersetzung der englische Text basiert.
Interessanterweise findet sich auf der Webseite von Orion Books, der auch den bekannten Krimiautor Ian Rankin und die englische Version von Asterix verlegt, (noch?) kein Kommentar dazu.
Tags: Klassiker, Kompakte Edition, Literatur, Orion Books, UK
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23.04.2007 um 14:24 Uhr
Frechheit… Soetwas sollte man nicht machen. Das verfälscht die Werke…
23.04.2007 um 18:41 Uhr
„I took some lessons in speed reading. Afterwards I read Tolstois „War and Peace“ in under 2 hours. It’s about Russia!“ – Woody Allen (aus dem Gedächtnis zitiert)
25.04.2007 um 0:28 Uhr
Es kommt darauf an, wie man solche Diat-Ausgaben gestaltet. Prinzipiell finde ich, daß man nicht so superspitzfingerig mit Klassikern umgehen sollte. Und wenn (alte) Übersetzungen rechtefrei sind, dann verstehe ich schon (billigen ist was anderes), daß der Übersetzername untern Tisch fällt.
Hier erstmal Molo-Service, weil die beiden angesprochenen Bücher durchaus schon (oder mittlerweile) auf der Verlagsseite vorgestellt werden:
Also: HALF THE TIME nur noch für
• »Anna Karenina« von Leo Tolstoy. Immer noch stolze 400 Seiten.
• »Moby Dick von Herman Melville. Runter auf 336 Seiten. Da passt bald die Abschlußballhose wieder!
Fast schäm ich mich ja für Orionbooks, denn die haben ein ganz annehmbares Fantasy/SF-Programm, und von den Everyman-Ausgaben bin fast sowas wie ein Fan.
25.04.2007 um 9:14 Uhr
molosovsky schrieb:
Genau! Lektoren wissen sowieso alles besser, also sicherlich auch, wie lang so ein Roman „heute“ sein darf und welche seiner Teile überflüssig sind. Scheiß auf die Autoren und ihre Arbeit! Von Kunst ganz zu schweigen! Business rulez!
Und auf der Rezipienten-Seite: Alle Menschen wollen Klavierspielen können, aber keiner will’s lernen. Man will „Moby-Dick“ lesen, aber um Gottes willen nicht so viel davon. Selbst hier in einem Literatur-Blog ist keiner auch nur in der Lage, den Titel des Buches richtig wiederzugeben! Toll!
25.04.2007 um 10:06 Uhr
Glückwunsch, bonaventura, Du hast es doch gerade geschafft. Mit Bindestich und allen Anführungszeichen: »Moby-Dick«-Titel richtig wiedergegeben.
Ich urteil nicht so gern Sachen ab, die ich nicht aus der Nähe betrachtet hab, und von Indirektem lasse ich mich so schnell nicht kirre machen. Kann ja sein, daß MIR diese Orienbooks-Slimfit-Ausgaben taugen würden.
Und bei ›uns‹ könnte ja man z.B. mal solche Sachen wie Oweh Johnson’schen »Jahrestage« entsprechend zammkürzen (oder gleich ein Comic draus machen, oder ein Nintendospiel 🙂
Ansonsten sehe ich nicht, daß ich einem »Lektoren/Verlage sollen machen was sie wollen« rundum zugesprochen habe.
25.04.2007 um 12:22 Uhr
Moby=Dick hin oder her,…
Der Lektor als Leser mit Rotstift. Vor der Veröffentlichung hoffen wir auf weise Lektoren, die sich in den Autor und sein Werk hineinversetzen wollen, seine Essenz herauskitzeln, dem Autor Mut machen und in den Hintern treten. Aber was passiert mit Autor und Lektor nach der Veröffentlichung?
In dem Interview mit Newsnight Review (>>podcast hier, http://news.bbc.co.uk/1/hi/programmes/newsnight/review/6571287.stm; Einstieg bei 24:20min) gibt Orion Verleger Malcom Edwards ganz klar an, dass ‚der Leser heutzutage keine Zeit mehr hat’ und sie deshalb die kompakten Versionen auflegen. Mein Frage wäre: sie haben Zeit ein kurzes Buch zu lesen, aber keine für ein Langes? Das ist doch kein Grund einen Klassiker so radikal zu kürzen. Mich ärgert das schon bei Audiobooks.
Im selben Podcast werden Beispielpassagen aus gekürzter und langer Version parallel vorgelesen und man kann ganz deutlich erkennen, dass den Werken etwas verloren geht. Beschreibungen russischer Strassenszenerie oder Ishmails Gedankengänge zu Walen haben in diesen Werken einen klaren Sinn, sie sind nicht nur Extras um Atmosphäre zu schaffen, sie beinhalten Symbolik, erklären die Figuren, ihren Hintergrund, ihre Handlungen … es ist eben nicht nur ein Buch über Russland, genausowenig wie Der Denker von Rodin nicht einfach nur ein Brocken Stein ist.
Ich muss da Prof. Johnathan Bates zustimmen wenn er sagt: „What makes a great novel is it’s sheer inclusiveness, the range of its material.“
25.04.2007 um 16:18 Uhr
Fällt mir grad auf. ›Früher‹ nannten sich solche gekürzten, vereinfachten Klassikerausgaben schlicht ›Jugendausgaben‹. Kennen wir doch von »Guillivers Reisen«, »Robinson Crusoe«, »Lederstrumpf« usw. Bevor man sich also groß über solche Verhackfleischung geliebter Klassiker NUR uffregt, mal drann denken, obs nicht vielleicht doch auch ein bischen löblich ist, jüngeren Leserschichen Melville und Tolstoy nahezubringen.
Das Stirnerunzeln verstehe ich aber schon auch. Als inniger Verehrer von »Guillivers Reisen« z.B. klage ich z.B. darüber, daß kaum jemand die 3. und 4. Reise von Guilliver kennt. Man muß das nur mal mit Filmen vergleichen und sich vorstellen, was für eine Figur AB 12-Fassung von z.B. »Clockwork Orange« oder »Fight Club« machen würden. Erbärmlich! würde man da wohl zurecht schreien.
Bei Büchern aber ist dieser Fall etwas anders gelagert, denn im Gegensatz zum ›Spektakelmedium‹ Film dienen und fördern Bücher ja mehr, als dem/das sich unterhalten lassen. Insofern hege ich erstmal ein gewisses Wohlwollen für solche ›nur‹ kürzenden Klassikerausgaben. Sprachliche Modernisierung (sprich: Slangaufpimpung), wie sie (glaub ich) mal Dieckmann und Co bei uns versuchten aber sind zeihenswürdig, klaro.
25.04.2007 um 18:35 Uhr
Möchte nur darauf hinweisen, daß ich sich das Thema parallel im Klassikerforum zu einer Diskussion entwickelt hat. Und im DLR gab es gestern eine Hörerdebatte zum Thema
26.04.2007 um 9:48 Uhr
Yep, Jugendausgaben. U.a. von Erich Kästner. wunsch: „Moby Dick“ von Bret Easton Ellis. Und „Anna Karenina“ von Welsh 😉
Ich versuch grad dem Sohnemann den einen oder anderen Klassiker zu kaufen. (In Jugendcovern) Gibt fast nur Jugendausgaben. Nur Pinocchio und wind in den Weiden war bei „Geolino“ z.B. „unbearbeitet“. (Von denen im Regal.)
26.04.2007 um 17:30 Uhr
Jugendausgaben (gekürzt) ist was anderes als die Kästner’schen Nacherzählungen! Aber nah genug beieinander, ums in einen Korb zu tun, sind diese Sachen allemal.
Es gibt auch richtiggehend glänzende Nacherzählt/Gekürzt-Ausgaben: Zum Beispiel
Wegen solcher Beispiele also meine Haltung: erstmal nicht gleich los- oder beim Gegreine anderer mitgreinen, wenn Literatur bearbeitet wurde. Immerhin: die Klassiker sind unter der Erde, DENEN ists also nicht mal mehr herzlich Wurscht.
18.05.2007 um 8:51 Uhr
Über Klassikerkürzungen, schwindende Lesefähigkeiten, explizites Nicht-Gelesen-Haben,
über Ungelesene Klassiker u.v.m. fand ich in diesen Tagen so ergiebige Quellen im Internet, daß ich etwas atemlos bin. Ihnen hinterher gehechelt, ergaben sich teils eigene, zusammen fassende Beiträge, teils konnte angesichts der Fülle nur ein Link gesetzt werden. Meiner Übersicht wegen rief ich die Rubrik Ungelesen, gekürzt oder abgebrochen ins Leben.
05.07.2007 um 17:07 Uhr
wo ist das problem? vielfalt des angebots kann nie schaden…