Samstag, 02.02.2008 | 15:40 Uhr

Autor: Regula Erni

Jonathan Littell: „Die Wohlgesinnten“

Frank Schirrmacher ist davon überzeugt, dass nach dem Erscheinen des umfangreichen Werkes — 1381 Seiten — von Jonathan Littell in deutscher Sprache eine Debatte einsetzen wird. Littells Werk ist aus der Perspektive eines SS-Obersturmbannführers, der als Mitglied des Sonderkommandos 4a und des Reichssicherheitshauptamts zwischen 1941 und 1945 an der Planung des Holocaust beteiligt ist, ihn perfektioniert, umsetzt und ausführt, geschrieben.

„Was ist das für ein Buch? Es ist zunächst, und dafür spricht fast alles, ein Buch von einer unerhörten Präzision. Littell hat die Quellen in einer bislang beispiellosen Weise in sein Werk integriert: von Goldhagen (den er ablehnt) bis zu Christopher R. Browning, von Albert Speer bis zu Ernst Nolte, von Joachim Fest bis Ian Kershaw. Es ist enorm. Doch man kann vorhersagen, dass sich die Rezeption in Deutschland von der französischen schon allein deshalb unterscheidet, weil das gebildete deutsche Lese-Publikum viele dieser Fakten kennt, insgesamt über genauere Kenntnisse der historischen Vorgänge verfügt. Die französische Öffentlichkeit hat in weitaus geringerem Maße als die deutsche Kenntnis von den historischen, bürokratischen und ideologischen Fakten des Völkermords; schon deshalb wird Littells Roman in Frankreich auch als historischer Roman gelesen. Deutsche Leser werden beeindruckt sein von der Bändigung der Fakten in den kunstvoll übereinanderliegenden Schichten des Romans; aber sie werden nachdrücklicher die Frage nach der Hauptfigur stellen. Ist das der Täter? Erklärt Aues Biographie, was uns bis heute unerklärlich scheint? Ist es das Jahrhundertwerk, als das es von „Le Monde“ gepriesen wird?“

Naja, wir warten gespannt und lesen bis dahin, was im FAZ Reading Room publiziert wird.

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8 Kommentare

  1. Johanes Says:

    Was ich mich frage: Hätte dieses Buch auch vor zehn Jahren in Deutschland erscheinen können? Was ist passiert, dass der salopp-fiktive Umgang mit SS-Verbrechen, Hitler usw. ausgerechnet jetzt solch eine Konjunktur erfährt in der Literatur? Für mich gehört auch Eric-Emmanuel Schmitts Küchenpsychologie „Adolf H. Zwei Leben“ dazu oder Hans Waal „Die Nachhut“, alle erscheinen in diesem Frühjahr. Die Nachhut kenne ich zwar bisher nur als Ankündigung, aber scheint in im Ansatz fast noch spannender zu sein, weil sich diese Geschichte offenbar wenigstens in die Gegenwart zieht. Auch interessant: Wieso getrauen sich so etwas nur „Ausländer“, ein französisch schreibender Amerikaner, der Franzose Schmitt und Waal, vermutlich Holländer?

  2. molosovsky Says:

    Siehe Rosendorfer »Die Nacht der Amazonen«. Brilliant, erschütternd, z.T. brüllend komisch, wenig beachtet, leider. — Ich mocht ja auch Kunkels »Endstufe« sehr, aber da hat man ja noch nicht mal ein Erscheinen abgewartet, um zu verdammen. Hier mal zur Erinnerung meine damalige erste Besprechung zu dem Buch (ich will seit Ewigkeiten eigentlich mal mehr zum weiteren Inhalt von »Endstufe« schreiben): »Endstufe«, oder: An welcher inversen Form von Eitelkeit krankt Molosovsky, wenn er gerne in solch einen schwarzen Spiegel schaut? — Die Frage mit der Eitelkeit und dem schwarzen Spiegel kann man denke ich auch auf »Die Wohgesinnten« umklappen. Geben ›wir’s‹ doch ruhig mal ein bischen zu: es ist schön für die National-Eitelkeit, wenn Ausländer sich in geschichtlichem Hineinversetzem üben anhand ›unserer‹ Superlativ-Missetaten.

  3. manfred macori Says:

    die wohlgesinnten ist ein notwendiges und bedeutendes buch über die täter.die kritiker wünschen sich selbst zur shoa bücher die den inneren und äusseren regeln der literatur entsprechen.jonathan littell geht über diese intellektuell gezogenen grenzen hinaus.die französichen leser haben das verstanden.menschen haben das menschen angetan,nicht kunstfiguren.die deutsche kritik denkt lieber nach.der geistig tabuisierte abwehrmechanismus darf nicht gestört werdenl also lieber literarisch wertvolles von herrn g.grass zum thema . ja,anstrengend ist das buch und mühsam . und anspruchsvoll.bitte lesen

  4. molosovsky Says:

    Derweil ich darauf warte, dass in den Antiquas Frankfurt eine für mich erschwingliche Ausgabe von »Die Wohlgesinnten« angeschwemmt wird, bin ich über drei lesenswerte Reaktionen zu diesem Monsterroman gestoßen.

    A: Alban Nikolai Herbst traut sich, uns in seinem Blog »Die Dschungel«mitzunehmen auf seine persönliche Lesereise durch das Buch. Bisher gibt es fünf Einträge in der Themenfach »Notate«: 1. Iris Radisch; 2. Abwehr heilt nicht; 3. Banalität des Bösen; 4. Es ist nicht ausgestanden; 5. Unverfluchtheit. — Spannend zu lesen, wie Herbst sich beim Lesen über die Schulter schauen lässt. Herbst ist derweil begeistert von dem Buch (oder auch ›nur‹ von den Gedanken, auf die ihn selbiges bringt), macht aber aufmerksam darauf, dass seine Notate eben noch kein Schluss-Urteil sind, und er sich womöglich im Laufe der Lektüre noch widersprechen wird. Ich ziehe auf jeden Fall respektvoll meinen Hut, wie Herbst hier die Möglichkeiten des Internet-Schreibens nutzt.

    B: — Thor Kunkel hat sich in seiner Blog-Rubrik »Unnatürlich natürlich« Littell und das Pahö um sein Buch vorgenommen und lässt keinen Zweifel daran, dass er beides für schwer überzogen hält. Bedenkenswert, wie Kunkel ausdeutet, dass Jorge Luis Borges mit seiner ca. 2300 Worte kurzen Geschichte »Deutsches Requiem« bereits knapper und eleganter auf den Punkt gebracht hat, was der Katharsisziegel »Die Wohlgesinnten« zur Sprache zu bringen trachtet. Nett auch der Hinweis, dass der Roman in Spanien floppte.

    C: — Am differnziertesten hat das italienische Autorenkollektiv Wu Ming den Roman besprochen (auf Englisch). Bei uns sind Wu Ming bekannter unter ihrem ›alten Pseudonym‹ Luther Blissett (nebenbei: dessen historischer Infowar-Roman aus der Reformation »Q« ist sehr feiner Stoff!). Sie vergleichen, wie mir dünkt, durchaus passend, das Hybris-Unternehmen von Littell mit Melvilles »Moby Dick« und unterstreichen die Zweischneidigkeit der Wirkung von »Die Wohlgesinnten«. Einerseits macht Littell schön deutlich, dass eben auch das sogenannte ›Unmenschliche‹ etwas völlig Menschliches ist (jeder kann zum Nazi werden, jedermensch nehme also zuvörderst ›sich selbst‹ suspekt in Augenschein). Andererseits warnt Wu Ming, dass man sich als Komplettleser des Wälzers und dessen zig Seiten langen Greulbeschreibungen in Gefahr begibt abzustumpfen (»To put it clearly: once we’ve finished the reading we’re meaner than when we started.«). — (Nochmal nebenbei: Warum eigentlich wurde von Luther Blissett/Wu Ming nix mehr auf Deutsch herausgebracht. Der Roman »54« dürfte doch bei uns durchaus in für einen Verlag rentablen Maße Leser finden, oder?).

  5. trams Says:

    Ich habe nun gerade erst in der französischen Fassung die ersten 700 Seiten gelesen. Muss öfters Worte nachschlagen und komme daher langsam voran, aber ich bin sehr von den Bienveillantes und der Person des Max von Aue fasziniert, von seinen so unterschiedlichen Schichten des Handelns, Denkens, Fühlens und Träumens. Auch wenn es ein Roman ist, besteht doch eine sehr große Nähe zu historischen Ereignissen des „3. Reiches“. Es stellt sich die Frage, ob die Homosexualität, seine erotische Beziehung zur Schwester und seine S/M-Träume sozusagen in systemimmanenten Bezug zu seinen Erschießungskommandos stehen sollen. Der Roman verlangt dem Leser viel ab, auch was die langen Dialoge z.B. mit dem sowjetischen Politoffizier in Stalingrad oder mit Dr. Voss betrifft. Interessant auch die Distanz der Wehrmacht zu SS und SD, auch wenn das nicht durchgehend so gewesen sein mag. Aber es ist einfach hochinteressant und wird mich noch lange beschäftigen. Schön wäre, wenn es auch junge Leser lesen würden. Mein Respekt vor dem offensichtlichen sehr umfangreichen Ausschöpfen von Quellen durch den Autor.
    Tramsen

  6. trams Says:

    Nachdem ich Jonathan Little’s „Les Bienveillantes“ beendet habe, beschäftigt mich der Roman immer noch. Der Marginalienband ist eine wertvolle Hilfe, vieles besser zu verstehen. Manches bleibt mir unklar, z.B. der brutale Mord an Mihaï, der wohl nur mit der gestörten Persönlichkeit Aue’s zu erklären ist oder weiß jemand eine andere Interpretation?

    Beeindruckend fand ich die Szene, in der Aue seine Verwundung in Stalingrad schildert. Als Leser hat man Schwierigkeiten, erlebte Realität, traumatisches Erleben und schließlich reine Traumwelt im Zustand der Bewusstlosigkeit zu unterscheiden (S. 593 ff.). Diese Zustände gehen fließend in einander über und man fragt sich, was ist denn jetzt los, treibt er wirklich in der eiskalten Wolga womöglich in einem Hohlraum zwischen Wasser und Eis, das ist doch nicht möglich und in was für eine Scheinwelt gerät er, in der auch seine Schwester wieder auftritt? Erst auf S. 620 ff. erfährt man von Aue‘s Rettung und auf S. 628 schildert Thomas die näheren Umstände Aue‘s Ausfliegens aus Stalingrad. Letztlich hat Aue das Thomas und Hohenegg (S. 927) zu verdanken. Erstaunlich dann das Ende: Thomas erschießt Clemens, der Aue gerade festnehmen will (S. 1388) und Aue erschlägt kurz darauf Thomas, seinen Lebensretter und Freund, wohl um an seine Jacke zu kommen, die ihn als franz. Zwangsarbeiter ausweist und damit das Überleben sichert, obwohl er diese Jacke zu einem früheren Zeitpunkt ohne Probleme hätte bekommen können. Aue also doch als reiner Opportunist, der über Leichen geht und zu keinen emotionalen Bindungen in der Lage ist, andererseits aber auf Greultaten somatisch reagiert und vielleicht sogar die Arbeitsjuden retten will? Das ist alles sehr widersprüchlich!

    Interessant und für mich neu ist die Erkenntnis, dass die Judenvernichtung in der SS einen höheren Stellenwert hatte als die Steigerung der Kriegsproduktion, voraus gesetzt der Roman stellt dies als historischen Fakt korrekt dar. In diesem Falle hätte sich Himmler und seine Mannschaft der bewussten Sabotierung der Kriegsziele nach damaligem Sprachgebrauch schuldig gemacht. Hitler hätte diesen diabolischen Zielkonflikt entscheiden müssen. Interessant war für mich auch der Artikel von Günter Gillessen in der FAZ vom 18.7.08 Seite 37 „Unsere letzten Zweifel und Hemmungen waren 1941 beseitigt“, in dem die Rolle von Arthur Nebe gewürdigt wird, der in den „Bienveillantes“ auf S. 1171 als Opfer des 20. Juli 44 erwähnt wird. Warum er in dem o.g. Artikel als eine der undurchsichtigsten Figuren der Widerstandsbewegung dargestellt wird, ist mir unklar, denn als früherer Polizeichef und nun wohl im SD musste er ja verdeckt handeln und konnte so mehr Juden zu retten versuchen anstatt den Dienst zu quittieren. Hier wird wohl wieder aus unserer heutigen „Sicherheitswelt“ vorschnell ein Urteil gefällt.

    Dirk Tramsen

  7. Thomas Says:

    Littell habe viele Quellen in sein Buch integriert, schreibt Schirrmacher. Das alleine ist ja keine Leistung. Über Dinge wie den „Rosa Winkel“ nachzustudieren, scheint Littell etwa nicht interessiert zu haben. Dies ist keine Voraussetzung, um einen Fantasie-Roman zu schreiben, aber um den Holocaust und das Dritte Reich als Aussonderungssystem alles „Widernatürlichen“ zu verstehen. Littell hat in Interviews zu erkennen gegeben, dass er daran nicht interessiert sei. Nur so ist zu erklären, dass er im Buch seine gestörten homophoben Fantasien ausleben wollte. Wer den Roman lobt, macht sich daran mitschuldig.

  8. molosovsky Says:

    @Thomas:
    Littell schreibt einen Roman, dessen deutsch/französiischer SS-Unhold-Erzähler homosexuell ist (was nur eine von vielen EIgenschaften des Erzählers ist), und WEIL da nun der Rosa Winkel nicht vorkommt, muss das Buch schlecht sein. — Verstehe ich nicht.

    Zugegeben: Bisher habe ich nur in die ersten 100 Seiten reingekostet und den Marginalienband gelesen. Der Marginalienband ist ziemlich interessant (vor allem das lange Gespräch von Pierre Nora und Littell) und die ersten 100 Seiten ließen mir noch nicht die Haare zu Berge stehen, auch wenn ich mit einigen Aspekten so meine Probleme habe.

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