Sonntag, 16.10.2011 | 22:09 Uhr
Autor: Andreas Schröter
In seinem satte 927 Seiten dicken Debütroman „Gegen die Welt“ erschafft Jan Brandt, geboren 1974, mit dem fiktiven ostfriesischen Ort Jericho einen ganz eigenen Mikrokosmos. Der Leser kennt sich nach einer Weile dort so gut aus, dass er ganz genau weiß, wo die Menschen einkaufen gehen, welchen Arzt sie aufsuchen und wer mit wem ein heimliches Verhältnis hat. Man meint, das Dorf und seine Bewohner schon jahrelang aus eigener Anschauung zu kennen.
Im Mittelpunkt steht der Junge Daniel Kuper, der deutlich intelligenter und aufgeweckter ist als seine meist dumpfen Mitmenschen. Doch bringt ihm dieser Unterschied nichts als Ärger ein: beim Konfirmanden-Unterricht, bei seinen Mitschülern und Lehrern, bei seinen Eltern, die eine Drogerie betreiben, und schließlich im gesamten Dorf, als er den Bürgermeister-Kandidaten als heimlichen Nazi entlarvt, aber selbst bezichtigt wird, Nazi-Symbole an die Hauswände zu schmieren. Am Ende ist Daniels Ruf derart ruiniert, dass er kaum noch einen Schritt tun kann, ohne sich wenig später auf der Polizeiwache wiederzufinden.
Ein 927-Seiten-Buch hat meist Längen. Und das gilt auch für „Gegen die Welt“. Jan Brandt verliert sich gelegentlich in seitenlangen Aufzählungen (zum Beispiel was es in der Drogerie alles zu kaufen gibt). Auch wird der Sinn einiger Nebenhandlungsstränge, die zunächst über hunderte von Seiten ausgebreitet werden, dann jedoch keine Rolle mehr spielen, nicht klar. Beispiel dafür ist die Geschichte eines Lokführers, der psychisch an den Menschen zugrunde geht, die sich vor seinen Zug werfen und Selbstmord begehen. Graphisch interessant wird diese Nebengeschichte zwischen den Seiten 214 und 369 unterhalb einer horizontalen Linie erzählt, die sie von der eigentlichen Handlung, die oberhalb dieser Linie weitererzählt wird, abtrennt. Es gibt noch ein paar andere solcher Spielereien in diesem Buch: verblassende Schrift, wenn jemand das Bewusstsein verliert, zwei Briefe mit handschriftlichen Ergänzungen und Einschüben oder andere graphische Elemente wie dem Ankündigungsplakat für ein Rockkonzert. Das Buch endet auf Seite 921 mitten im Satz. Es folgen noch sieben komplett leere Seiten. Man kann sicherlich geteilter Meinung darüber sein, ob solche Gags zur Qualitätssteigerung eines Buches beitragen.
In einem weiteren Nebenhandlungsstrang führt der Autor den Leser ein wenig an der Nase herum, was durchaus spaßig und gelungen ist: So glaubt einer von Daniels Freunden, das ganze Dorf sei von Außerirdischen besetzt worden, die Besitz vom Körper der Menschen ergreifen. Auch Daniel habe einmal in einem Maisfeld, in dem sich ein Kornkreis findet, Kontakt zu diesen Außerirdischen, den Plutoniern, gehabt. Das würde jeder Leser sicherlich als typische Spinnerei eines Jugendlichen abtun, wenn es da nicht jenes Kapitel gäbe, das die Landung eines dieser Außerirdischen aus dessen Sicht in Jericho beschreibt …
Trotz einiger Kritikpunkte bietet „Gegen die Welt“, das auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2011 steht, ein lohnendes Lesevergnügen.
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Jan Brandt: Gegen die Welt.
Dumont, August 2011.
927 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,99 Euro.
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