Donnerstag, 29.12.2005 | 22:47 Uhr

Autor: Andreas Schröter

Heile Welt bedroht

Saturday

Als eines der wichtigsten Bücher des Jahres sehen einige Kritiker
„Saturday“ von Ian McEwan. Zu Recht. In seinem neuen Roman greift der
57-jährige Engländer virtuos die großen Themen des Menschseins auf:
Liebe, Glück, Alter, Tod – um nur einige zu nennen.

Zugleich ist es ein hochpolitisches Buch, das den Al-Kaida-Terror
genauso thematisiert wie den Krieg gegen Saddam.

„Saturday“ hat eine ähnliche Ausgangssituation wie das berühmte
„Fegefeuer der Eitelkeiten“ von Tom Wolfe (1988). Hier wie dort ist es
ein Autounfall, der in die heile Welt des gut situierten Protagonisten
eingreift. Doch anders als bei Wolfe stürzen die Ereignisse den
48-jährigen Neurochirurgen Henry Perowne keineswegs in den Abgrund. Im
Gegenteil: In gewisser Weise stärken sie ihn sogar. Nach gut 380 Seiten,
auf denen der verbrecherische Unfallgegner die Familie Perownes bedroht,
sieht die ohnehin schon heile Welt des Helden noch etwas heiler aus.
Wollte man das Buch kritisieren, fände sich hier ein Ansatz. Henry
Perowne wirkt zu perfekt: Er hat eine intakte Ehe, zwei wohlgeratene
Kinder, Freude an seinem hochbezahlten Job und fährt standesgemäß einen
silbernen Mercedes S 500, der beim Autounfall (Sinnbild für den gesamten
Roman?) kaum eine Schramme davonträgt. So gelesen ist „Saturday“ auch
ein Plädoyer für die traditionellen Werte wie Familie und Karriere im
Kampf gegen äußere Anfeindungen, hier bestehend aus Terror und
Verbrechen – eine beinahe mutig altmodisch anmutende Sichtweise.

Wie in Joyce’ Ulysses erstreckt sich die vordergründige, jedoch von
zahlreichen Reflexionen und Rückblenden unterbrochene Handlung nur auf
einen einzigen Tag, den 15. Februar 2003 (einem Samstag, daher der
Titel), als in London über eine Million Menschen für den Frieden
demonstrierten – was den historischen Tatsachen entspricht.

Und ausgerechnet diese Friedensdemo gegen den Irakkrieg ist es, die
indirekt dazu beiträgt, dass der persönliche Frieden Henry Perownes
kurzzeitig in Gefahr gerät. Ob der Autor mit dieser Konstellation eine
politische Aussage treffen wollte – und wenn ja, welche – bleibt offen.
Im Buch werden die bekannten Argumente für den Krieg, vertreten durch
Perowne, und dagegen, vertreten durch seine Tochter Daisy,
wiedergegeben, so dass der Leser selbst entscheiden kann, wem er folgen mag.

In stilistischer Hinsicht ist „Saturday“ perfekt, wenn auch in einigen
Abschnitten etwas in die Länge gezogen. Egal, ob es um ein Squashspiel,
einen chirurgischen Eingriff, den Besuch im Altenheim oder die
Zubereitung von Fisch geht: Immer erweist sich Ian McEwan als
Schreibkönner, dem nicht allzu viele Kollegen der Gegenwartsliteratur
gewachsen sein dürften.

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2 Kommentare

  1. Christian Koellerer Says:

    Man sollte vielleicht sagen, dass „Saturday“ abgesehen von der „Tageshandlung“ ästhetisch nichts mit „Ulysses“ zu tun hat, dazu ist es ästhetisch viel zu brav.

    Habe den Roman aber auch sehr gerne gelesen und kann mich der Empfehlung nur anschließen.

  2. Andreas Schröter Says:

    Ja, der Hinweis zu Ulysses stimmt – keine Frage.

    Übrigens habe ich eben gesehen, dass der erste Absatz meiner Rezension irgendwie verlorengegangen ist. Habe ihn jetzt wieder eingefügt. Man möge mir die technischen Unsicherheiten verzeihen, ich bin noch neu hier.

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