Donnerstag, 28.04.2016 | 14:03 Uhr
Autor: rwmoos
Verzettelt.
Der Audio-Verlag hat mit Unterstützung von Radio Bremen Ingo Schulzes: „Neue Leben“, gelesen vom Autor, als Hörbuch veröffentlicht.
Das hätte er nicht tun müssen.
Auf einer langen Autofahrt durch Ostdeutschland habe ich mir alle sechs CDs angehört. Das habe ich durchgehalten, weil ich mir dabei vorgestellt habe, durch eine derart unendlich unattraktive Landschaft zu fahren, dass mir selbst diese Lesung zur willkommenen Abwechslung gereiche. Doch das war selbst in Nordsachsens Braunkohlerevieren schwierig.
Wie andere Rezensenten darauf kommen, dies Werk zur Gänze zu loben, ihm gar als endlich geschriebenen Wende-Roman zu huldigen, ist mir unerklärlich. Den Schrott einer unausgegorenen Persönlichkeit, die der Autor selbstverliebt als faustischen Charakter mit prophetischem Überblick – der Name des Protagonisten lautet Heinrich Türmer! – in Form eines Brief-Romans inszeniert, zu lesen, wäre schon hart. Dem monotonen Singsang der Vorleser-Stimme stundenlang zugehört zu haben, aber zeichnet mich endgültig als Ironman unter den Hörbuch-Konsumenten aus.
Vielleicht soll diese Art des Nicht-Vortrags an Robert Gernhardt gemahnen. Doch wo dort die monotone Nüchternheit der Stimme als Double-Bind zum humoristischen Inhalt fungierte, bleibt hier nur das nackte Grausen.
Der Autor versteckt sich als Herausgeber von Zufalls-Fund-Briefen, die – welche Überraschung – eigentlich nur seine Autobiografie als Zeitungsfritze in der Nachwende-Zeit spiegeln. Als Alter Ego mit mephistophelischem Charakter wird ein Baron Barrista eingeführt, der als Unternehmensberater all die Eigenschaften in sich vereint, die der Wende-Ossi mit Ambitionen gern an sich gehabt hätte, sich aber nie laut zu wünschen traute.
Gedanken und Handlungen sind so gut wie nie zu Ende geführt. Das soll man wohl als Stilmittel verstehen. Seltsam, dass ein Großteil des literarischen Etablissements wirklich darauf herein fällt. Eigentlich sollte man dem Autor dazu gratulieren, wie man einem genialen Fälscher zu einem gelungenen Coup gratuliert. Doch sei mir dies erlassen.
Nun ist der „Roman“ ja als Sammlung von Briefen des Heinrich Türmer an drei verschiedene Partner aufgebaut: Seiner Schwester Vera, die beizeiten in den Westen ausgereist war, seinem Jugendfreund Johannes, einem Jung-Theologen, und einer von ihm hochverehrten Freundin. Diese Form wird gern als Wiederaufleben der Brief-Romane des 18. Jahrhunderts wahr genommen. Das ist doppelter Unsinn.
Alle drei Partner scheinen nie geantwortet zu haben. Somit ist das Opus eher ein Monolog an drei fiktive Gestalten, als ein Briefroman. Ich habe Briefromane durchaus mit Gewinn gelesen und – vorausgesetzt man versteht sie aus ihrer Zeit heraus – schillern sie oft in allen Lebensfarben. Man kennt zumindest Goethes „Werther“ und schätzt ihn vielleicht. Hölderlins „Hyperion“ erschien mir noch ungleich facettenreicher. Hier bei Ingo Schulze aber verdreckt das Hirn des Lesers respektive Hörers an den Auswürfen der rundum egozentrischen Persönlichkeit des verhinderten Briefschreibers, der jedweden Gegenübers völlig entbehren kann.
Ein wenig nimmt der Autor diese Seltsamkeit im Vorwort selbst auf die Schippe, als ihm als „Herausgeber“ die Merkwürdigkeit auffällt, dass die eigenen Briefe des fiktiven Schreiber als Durchschlag von diesem gesammelt worden waren.
In einem anderen Punkt möchte ich den Autor sogar verteidigen: Zumindest in der Vorwendezeit gab es die Kultur des Schreibens langer Briefe in der subversiven Szene des Ostens tatsächlich. Ich lese solch ellenlangen Werke von Freunden hin und wieder noch heute gern. Man näherte sich einander in Dialogen, die die Zerrissenheit der damaligen Zeit durchaus widerspiegelten. Allerdings wurden solche Briefe nicht an einem Abend geschrieben, sondern spiegelten manchmal die Entwicklung von Wochen. Und sie waren eben als tatsächliche Dialoge konzipiert, auch wenn das Sich-Öffnen durchaus auf Selbstreflexion beruhte und entsprechende Passagen in Anspruch nahm. Typisch, dass geborene Wessis solche Formen bestenfalls als Rückgriff auf vergangene Jahrhunderte rezipieren können.
So, nach diesem Verriss wird es Zeit, sich den einigen wenigen Perlen zuzuwenden, die in dem ganzen Mist aufschimmern. Zumindest eine davon sei erwähnt, nämlich die Geschichte kurz vor Schluss, als sich der Briefe-Schreiber mit der alten Kinderfrau zusammensetzt und sich mit dieser in eine Fress-Orgie an Schwarzwälder Kirschtorte, versetzt mit dem einen oder anderen Likörchen, hinein steigert … da endlich begegnet man wirklicher Literatur! Dass das Ganze als Aufstand gegen die bestimmenden Mächte der Zeit inszeniert wird, hier kleinkarikierend vertreten durch die eigentlich ganz nette Frau des überbordenden Egos, macht es nicht schlechter, sondern sogar besser.
Diese Passage als Kurzgeschichte und ich wäre des Lobes voll.
Reinhard W. Moosdorf
Tüchersfeld, im April 2016
Tags: Wende
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