Freitag, 22.12.2006 | 11:51 Uhr

Autor: molosovsky

Neils Gaiman präsentiert Marvel-Helden in der Renaissance

Als Marvel-Banause stehe ich ein bischen dumm, wie der redensartliche Ochs vorm Berg, vor »Marvel 1602« des Autors Neil Gaiman und der Zeichner Kubert & Isanove. Die allermeisten (bestimmt) geistreichen Dinge die, wie ich annehme, Gaiman & Co in dieses Comic eingewoben haben, gehen mir durch die Lappen. Ich merk, daß mir ein Handicap anhaftet, denn meine bisherigen Einblicke in die Welt(en) der verschiedenen Marvel-Helden & Heldinnen & Heldencliquen, reichen eben kaum über den Einblickshorizont hinaus, den die entsprechenden prallen (»Hulk«, »X-Men 1 & 2«, »Spiderman 1& 2«), labbeligen (»Daredevil«, »X-Men 3«) oder kurios-›lächerlichen‹ (»Fantastic Four«, »Elektra«) Spezialeffekte-Vehikel der diversen Marvel-Franchisefilme mir bisher ermöglichten. Ich habe kaum Kenntnis von den ganz alten, den nicht ganz so alten, den jüngeren und aktuellen legendären, umstrittenen oder kultverehrten kürzeren & längeren Erzählsträngen und Saga-Abschnitten des Marvel-Universums (nur vom Hörensagen weiß ich z.B. vom vielseits gelobten »Dark Phœnix«-Epos, das ja im 3. »X-Men«-Film verwurstet wurde). — Alle sich auf Marvel-tümliches beziehenden Anspielungen und Verweise (und davon hat’s in diesem Band, wie ich vermute, eine wuselig-wimmelnde Menge) bleiben also, solange ich nicht Gelegenheit habe ein umfassendes Marvel-Comicstudium zu absolvieren, derweil für mich dunkel. Deshalb muß ich wohl ›gestehen‹, daß ich den Eindruck habe, als ob mein großer Mythenmixer-Held Gaiman es sich diesmal ein wenig zu einfach gemacht hat. So richtig spannende, oder lustige oder zünftige (usw) Stimmung will bei mir nicht aufkommen. Obwohl ich sonst Gaimans Sachen schnell mal toll finde, bin ich unterm Strich erstaunt, wie sehr mich die Story, der inhaltliche Gehalt diesmal kalt läßt. Naja: wenn der Marvel-Fan seit Kindeheitstagen Gaiman sich mit seinem bewunderten Gegenstand vergnügt, kann’s eben sein, daß ein Marvel-Nichtfan (sondern eben ›nur‹ Ätschn-Phantastik-Leser) wie ich vorm Gatter bleibt.

Aber jetzt ist’s genug über das Gezwacke und Gezwicke meiner persönlichen Lese-Position; worum geht’s denn in dem Teil?

Sozusagen von Außen nach Innen aufgezwiebelt, finde ich wiedermal verschiedene Genre miteinander vermengt. Marvel: das ist einer der großen, alteingesessenen US-Comicverlagshäuser. Selbst wenn man Comics (oder US-Comics, oder US-Superheldencomics) sonst scheut, sollte zu den Allgemeingrundkenntnissen eines jeden literaturinteressierten Phantasten gehören, daß es in Amiland diese beiden Titanic-Pötte des Superhelden-Genres gibt: DC (Superman, Batman, Justice League, Watchmen) und Marvel gibt.

»Marvel 1602« ist zuersteinmal ein Marvel-Superheldencomic; genauer: ein abgeschlossener Sonderband, der in 8 Einzelheftchen (= Kapiteln) 2003/2004 erschien, und dessen sogenanntes ›Tradepaperback‹ (= Sammelband) ich letzten Monat günstig für 16 Euronen erstanden hab. — Wie, rümpfen Sie etwa die Nase über’s Superhelden-Genre?!? Also, da will aber mal ganz bildungshuberisch an Siegfried, Münchhausen, Dr. Mabuse (auch wenn der ein Anti-Held ist), Nick Knatterton, und da ich ein Schelm (und Spider Jerusalem-Fan bin) auch an Schweijk und Baby Schimmerlos erinnern! Womit ich hoffentlich, wenn auch nur fragmentarisch, klar genug andeute, daß die deutschsprachige Literatur und Kultur durchaus über manigliche superheldentaugliche Traditionen, Figuren und Stoffe verfügt. Schande und Schade, daß hierzuland so gar nix zu diesem Genre beigetragen wird. Wenn Sie also noch niemals nie ein Superheldencomic in die Hand genommen haben, ist »Marvel 1602« ein ganz gutes aktuelles Anschauungsobjekt, grad weil’s so typisch und zugleich nicht-typisch ist.

Wie schon der Titel zudem verkündet, ist die Story im Jahre 1602 angesiedelt, also haben wir es mit einem Historienstoff zu tun, und weil hier durch ein großes Durcheinander des Raum-Zeit-Multiversums das Marvel-Superhelden-Univerum sich in die historische Mantel- & Degen-Epoche des Spätelisabethanischen Englands ergießt, handelt es sich also zweitens um ein Werk des Alternativwelt-Genres.

Drittens, viertens und so weiter ergibt dann grob gesagt ein munterer Abenteuer-Monomythusreigen den weiteren Inhalt des Comics: In der einen Ecke die Helden, in der anderen die Bösen. Seit dem saftigen »Elizabeth«-Biopic mit Cate Blanchet (dessen Fortsetzung »The Golden Age« ansteht) ist ja klar: The Virgin Queen, auch wenn sie hier schon eine sehr alte Königin ist, und ihre Leut sind die Guten. Berühmt-berüchtigt ist ja Elisabeths I. Geheimdienst gewesen, und so bekomme ich entsprechend das Agenten- und Spione-Genre geboten (Bond & Bourne), sogar in der Ausformung des Staats- & Reichskonflikt-Abenteuers (Tom Clancy & Co.). Der grimmige Soldaten-Stratege, eben Oberagent Sir Nicholas Fury (Hulk?) ist der Chef dieses Geheimdienstes, und er soll auf königliche Order zusammen mit dem Universalgelehrten (Alchemisten, Zauberer) Stephen Strange (Doctor Srange?) herausbekommen, was all die beunruhigend wilden Wetter- und Naturphänomene verursacht, die seit einiger Zeit immer schlimmer werdend auf der ganzen Welt für zunehmende Verstörung sorgen (Also Teilgenre: Weltuntergangs-Szenario bzw. Gloablisierungsreflektion).

Im Schatten ihrer finsteren Burgen bosseln die Bösen derweil an ihren üblichen Welteroberungs-Unternehmen. Da ist einmal der fanatische Große Inquisitor (Magneto), der in Spanien Hexenbrut verbrennt. Mit ›Hexenbrut‹ sind die z.B. aus X-Men bekannten ›Mutanten‹ gemeint. Superhelden funktionieren ja meistens so: Da ist ein normaler Mensch (irgendwer, mit dem oder der sich eine bestimmte Zielgruppe gut idendifizieren kann, deshalb eben auch meist mit gewissen ›menschelnden Verliehrereigenschaften‹ und Achillesfersen ausgestattet), der durch einen schicksalsträchtigen Zwischenfall (Freakstrahlung, Experiment, Unfall) oder eben sogar schlicht evolutionären Mutations-Quantensprung, übermenschliche Fähigkeiten erlangt hat. Dabei kann einiges variiert und mit metaphorischer Spannung aufgeladen werden: sind die Superkräfte dauerhaft zuhanden, oder ›schaltet‹ der Held zwischen einem Normalo- und einem Übermenschen-Modus hin und her (siehe Jeckyll & Hyde)? Und wenn ge-switcht wird, welche Umstände, Emotionen, Reize sorgen für einen kontrollierten bzw. unkonrollierten Wechsel?

Die eigentliche Schirmherrschaft über die gute Hexenbrut hat natürlich Prof. X inne, der Obermentor aller gutgesinnten Mutanten, die keine Pest für die Menschheit sein, sondern ihre Hexenbrutkräfte halt für’s ›Gute Wahre Schöne‹ einsetzten wollen. ›Master Carolus Javier’s Select College for the Sons- of Gentlefolk‹ heißt sein Mutantenstadel allerdings in der Renaissance. Zum ersten Mal bekomme ich den feinen Mottospruch von Xaviers Schule mit: Omnia mutantur, nos est mutamur in illis (Die Dinge ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen). Es sind solche klaren, erhebenen Meme, weshalb ich das Superheldengenre für im Grunde ziemlich wertvoll halte. Zu den großen echten Mutationen, die wir alle durchmachen, gehört nun mal das Älterwerden, der Pupertäts-Übergangsritus vom Kind zum Erwachsenen. Ich denke, daß wer immer auch aus dem Tritt kommt durch erblühende Körperteile, sprießende Härchen und Hormentsunamis, kann sich spielerisch mit Fabelmenschen trösten. Das ist dann der wertvollste und schönste Aspekt der Superhelden: ihre einfachen aber kräftigen Maximen und Parabeln, über solche Dinge wie Verantwortung und Hoffnung.

Noch ein paar Einblicke in den Inhalt, damits nicht heißt, ich fasel hier nur deviant am Thema vorbei. — Ein bischen gegähnt hab ich, als wieder mal die Untergrund-Tempelritter einen Gegenstand von großer Macht aus Jerusalem nach Europa schmuggeln. Ein gutgelaunter blinder Barde (Daredevil) soll sich darum kümmern, daß diese goldene Kugel (siehe Platons Sonnengleichnis) nicht in falsche Hände gerät. — Aus der neuen Welt komm derweil Virigina Dare, die erste dort geborene Untertatin der Königin, zusammen mit ihrem Indianerbeschützer nach England. Virginia will um Hilfe für die Kolonie bitten; außerdem hat sie ein kleines Verwandlungsproblem. — Und es gibt fliegende Segelschiffe; Beobachter des Universums die sich verrenken, um nicht zu direkt in die Geschehnisse einzugreifen; in der Luft schwebende Mœbiusbänder die einen Raum-Zeit-Riss markieren; und vier ganz besonders ›fantastic‹ Helden, die aber erstmal einem Felsgefängnis entkommen müssen.

»Marvel 1602« würde ich am ehesten mit den mir bekannten »League of Extraodinary Gentleman« vergleichen, auch wenn »LGX« — die Comics! — um einiges wilder, bitterer, brutaler, sprich: was für ab 16 sind, wohingegen Gaimans Superhelden/Alternativhistorie definitiv ab 12 (wenn nicht sogar ab 6) ist. Damit will ich nicht sagen, daß »Marvel 1602« lasch und lahm ist. — Kinderkram kann sogar ziemlich ›hart‹ sein. Ich finde z.B. das die beiden »Schweinchen Babe«-Filme (nebenbei: ex-zel-len-te Phantastik) mit zu den härtesten Filmen der letzten 20 Jahren gehören (vor allem Teil 2 mit dem ›Hitlerhund‹; sowas wie »Rambo« oder jüngst »Poseidon« sind im Vergleich dazu harmlose Märchen), und die »Babe«-Filme haben, soweit ich weiß, gar keine Altersbeschränkung. (Bildungsbürgerappell: — Denkt darüber mal nach!)

Bleibt: das Comic ist zum Niederknien schön; die Zusamenarbeit von Andy Kubert (Bleistift) & R. Isanove (digitale Kolorierung) haut mich schlicht vom Hocker: der kunsthandwerkliche ›Vorsprung‹ der (grob vereinfacht gesagt:) Amis verblüfft mich immer wieder. — Aber besonders zum Fingerschlecken find ich die Einzelheft/Kapitelcovers von Scott McKowen, einem Kerl, der sonst eigentlich für z.B. Theaterplakate in New York bekannt ist. Für mich ist er der Star dieses Comics. Genial, dieses Plakat Romeo & Julia oder diese Kinderbuchgestaltungen (cooler Holmes, coole Alice!, und sogar eine gutgelaunte Heidi in den Alpen!!!).

Kleiner Gang durchs Comic:

  • 2 Seiten vorwortliche Einleitung von Kritiker und Comic-Akademiker Peter Sanderson (lehr »Comics als Literatur« and einer Uni in New York City);
  • 210 Seiten Comic in 8 Kapiteln (inkl. der Einzelheft-Covers);
  • 2 Seiten Nachwort von Master Gaiman (u.a. über das Vergnügen, an einem schönen Junitag Comics auf einem Boot in der Mitte eines Park-Sees zu lesen);
  • 14 Seiten mit dem Originalmanuspript von Gaiman von Heft/Kapitel No. 1;
  • 12 Seiten mit s/w-Bleistiftskizzen von Kubert;
  • 3 Seiten Erläuterungen von Master McKowen über die Covergestaltung;
  • 1 Seite farbiger Promo-Trailer mit teasernden Dramatis Personae (zumindest der Figuren, deren Auftauchen im Comic nicht als mittleres oder höheres Pa-Hö! und Ah-Ha! inszeniert wird).

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