Donnerstag, 13.01.2011 | 12:25 Uhr
Autor: Frank Berno Timm
„Es gibt mehrere Gedächtnisstränge. Das Gefühlsgedächtnis ist das dauerhafteste und zuverlässigste. Warum ist das so? Wird es besonders dringlich gebraucht zum Überleben?“ Solche Sätze sind besonders. Sie markieren, wo Christa Wolfs großes Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ hingeht.
Äußerlich, anders kann man es nicht sagen, beschreibt Christa Wolf ihren Aufenthalt als Stipendiatin des Getty-Centers in Los Angeles in den neunziger Jahren – und zwar genau zu der Zeit, als der Schriftstellerin in einer überaus heftigen, gewiss grob unsachlichen Diskussion ihre IM-Akte öffentlich vorgeworfen wurde. Was sich im bundesdeutschen Blätterwald abspielt, erreicht sie mit Verzögerung – gnadenlos setzt sie sich der Frage aus, wie es möglich war, dass ausgerechnet sie, die sich in ihrem ganzen Schreiben so intensiv mit sich selbst auseinander gesetzt hat, diesen Schritt vergessen konnte. Eigentlich reist sie nach Los Angeles, um mehr über die Verfasserin eines Briefwechsels herauszufinden – es wundert einen beim Lesen nicht wirklich, dass auch die Menschen ihrer amerikanischen Umgebung mit diesem, zweiten Thema verbunden sind.
Wer Christa Wolfs Werk kennt, weiß, dass Fiktion, Handlung und Figuren nur angedeutet – und im Kern auch nicht wichtig – sind. Die Autorin der „Kassandra“, der „Kindheitsmuster“, der „Medea“ hat sich im Kern von Schubladen freigemacht: Erzählenswertes muss keinen Plot, keine eigentliche Handlung, haben. Es sind Begegnungen, Gespräche, mit anderen Menschen, Reisen. Selten liest man Bücher, in denen so viele Gespräche mit so viel Genauigkeit, ja Akribie aufgeschrieben sind, ohne wirklich langweilig zu werden. Und dennoch sind diese 414 Seiten keinesfalls zufällig, sondern virtuos geplant: Erst nach gut 120 Seiten taucht die „Titelfigur“ Dr. Freud auf. Und immer wieder solche Sätze: „Die Suche nach dem Paradies hat überall zur Installation der Hölle geführt“. Es geht, auch, um das ständig im Kopf mitlaufende Tonband. Und dann: „Falsche Empfindungen kann man bedauern, vielleicht sogar verfluchen, aber nicht zensieren oder ändern“. Was das bedeutet? Wer möchte, kann in Christa Wolfs Buch durchaus Antworten auf das eigene Leben finden. Dazu ist es notwendig, sich im Lesen ganz auf dieses Geflecht an Gedanken, Beobachtungen, auch Krisen, einzulassen. Das kann durchaus tröstlich sein: Krisen dauerten eben, so lange sie dauerten, und es bedürfe keiner Gründe dafür.
Die Virtuosität dieses Textes liegt auch darin, dass immer und immer wieder Erinnerungen, Rückblicke eingestreut werden. Geht es in die Vergangenheit, spricht sie von „Du“ und „ihr“, nur in der Gegenwart von „ich“. Zahllos weitere Assoziationen: Lieder, Gedichte, Autoren (Thomas Mann, um nur einen zu nennen), wunderbar gezeichnet die anderen, nur scheinbar fiktiven Figuren dieses Buches, denen sie in Amerika begegnet. Apropos: Es gibt durchaus eine unwirkliche Dimension: Christa Wolf erkennt, dass ein Engel sie begleitet: Angelina.
Einmal mehr hat Christa Wolf es geschafft, so etwas wie das Geflecht des Lebens, der Wirklichkeit, in einem Text aufzuschreiben. Es ist keine einfache Lektüre, gewiss nicht – aber sie ist einleuchtend. Und noch mehr: „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ möchte ein zweites Mal gelesen werden, wenn nicht gar häufiger. Christa Wolf bekam für ihr Buch den Uwe-Johnson- und den Thomas-Mann-Preis, nicht zu Unrecht.
Frank Berno Timm
Christa Wolf, Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
414 Seiten, Suhrkamp, 24,90 Euro
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13.01.2011 um 12:36 Uhr
Klasse Artikel, mal wieder was dazu gelernt, weiter so 😉
13.01.2011 um 16:26 Uhr
… yep, wir lernenm daraus, dass im Literaturweltblog bei Spamkommentaren die URL devaluiert wird 😉
14.01.2011 um 10:11 Uhr
[…] Was sich beim Lesen so ergibt, steht hier. […]