Freitag, 06.10.2006 | 11:20 Uhr
Autor: Darinka Muth
Im umfangreichen Veranstaltungsprogramm der Buchmesse findet sich auch Raum für Einblicke und Diskussionen, die nicht direkt mit dem Thema Buch zusammenhängen. Zu diesen gehörte die gestrige Diskussion „Werte – Was die Gesellschaft zusammenhält“, die Werte der heutigen Gesellschaft betrachtete und sie in den Kontext von Globalisierung und wachsender Multikulturalität der Länder stellte. Besonderen Zuspruch im Publikum fand der indische Professor Dr. Surendra Munshi (Professor für Soziologie am Indian Institute of Management Kalkutta), der mit seinen Thesen nicht nur überzeugen und gewinnen konnte, sondern auch zuversichliche Ausblicke und Prognosen fand. Indien, das Gastland der diesjährigen Messe, bleibt durch Diskussionen wie diese auch über die literarische Ebene hinaus positiv im Gedächtnis.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Welt-Feuilletonchef Eckhard Fuhr, des Weiteren auf dem Podium saßen Prof. Dr. Otto Kallscheuer, freier Autor aus Berlin, und Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann-Stiftung und Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung in der Ludwig-Maximilian-Universität München.
Weidenfeld äußerte gleich zu Beginn, dass die Wertedebatte die Rolle des Lückenbüßers eingenommen hätte und somit das Resultat dessen sei, dass die Last, Werte zu ordnen, immer extremer geworden sei. Die eigene Stärke sei in den vergangenen Jahren in eine Art „zentrale Rolle“ gerückt; der Einzelne vermöge seine individuellen Prioritäten so auszurichten, wie es von seinen von ihm selbstbestimmten Werten vorgegeben werde. Eine sozial-konstituierende Wirkung könne nur dann erreicht werden, wenn bestimmte Werte von der Masse Gesellschaft geteilt würden. In Bezug auf Indien äußerte sich Weidenfeld kritisch, es fehle im Land an belastbarer Grundverständigung. Dennoch stehe er der Prognose, dass eine Festigung der Wertegesellschaft erreicht werden könne, zuversichtlich gegenüber.
Kallscheuer war da skeptischer. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität wären Werte der Vergangenheit und fänden ihren heutigen Platz als Indikator einer Notwendigkeit, nicht als Indikator einer Lösung. So würden etwa politische Institutionen das Entgegenkommen einer Gesellschaft benötigen, sie seien nur dann stark, wenn sie konträre Werte zu vereinen wüssten, gleichend dem Ideal einer multikulturellen Demokratie. Voraussetzung hierfür sei die vorhandene Homogenität der Gesellschaft. Bezüglich Indiens stellte Kallscheuer die Frage, ob die verstärkte Bedeutung des Hinduismus in der indischen Gesellschaft nicht zu einem Hindernis werden könne. Hierzu führte er die erste große Niederlage, die Abspaltung Indiens von Pakistan, an und gab zu bedenken, dass keine pakistanische Nationalidentität vorliege, sondern vielmehr eine religiöse Identität. Zum Vergleich zog er Europa hinzu, das den Integrations- und Erweiterungsprozess bereits begriffen habe und nun als säkularisierte Insel vorliege.
Munshi begann seine Argumentation mit einem Blick in die Vergangenheit und schlussfolgerte, dass das Vorhandensein von Werten in der heutigen Gesellschaft ebenso bedeutsam sei, sich lediglich die Werte änderten. In seinem Heimatland Indien existiere die Demokratie auf politischer Ebene, Indien sei von Markt- und Politikfreiheit, aber auch von Toleranz getragen. Auf die Frage, was Europa von Indien, und was Indien von Europa lernen könne, entgegnete Munshi, dass die Indian Union bereits seit 40 Jahren existiere und somit eine Art „Vorreiterrolle“ des Baus einer Europäischen Union sei. Analog dazu stellte er die Frage, warum die Europäische Union existiere, gleiches aber nicht auch für Indien und Pakistan gelten könne. Auf Weltebene würden, so Munshi, Werte benötig, welche zu einer Pluralgesellschaft gehören. Er appellierte an die Völker der Welt, sich bewusst zu werden, dass nur durch Zusammenarbeit und Bescheidenheit, nicht aber durch Arroganz in jedweder Form, eine Annäherung der Kulturen möglich sei. In Bezug auf Armut oder Analphabetismus – essenziellen Problemen, deren Lösung weltbedeutend sei – fehle es Indien etwa an Selbstkritik. Europa hingegen habe hier bereits vieles erkannt und unternommen, von dem man lernen könne und müsse.
Munshis Wunsch: Europa möge offener werden, mehr nach Außen blicken. Dies würde die Sicht auf die eigenen Probleme in einen größeren Kontext stellen und neben allem Pessimismus auch einmal Stolz auf das Erreichte erlauben und Synergieeffekte eher möglich machen.
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