Montag, 13.11.2017 | 13:20 Uhr
Autor: rwmoos
Rimini
Vermehrung als Ersatz für Lebenssinn
Ein Hörbuch ist etwas völlig anderes als ein Buch. Die Rezension hat bei Ersterem deutlich umfangreicher auszufallen. Hat man beim Buch sich nur um den Inhalt zu kümmern, sind hier auch Vortrag und Technik zu beachten. Um der Eigenart eines Hörbuches gerecht zu werden, kehre ich die sonst übliche Vorgehensweise um, und repliziere zunächst auf die Technik, dann auf den Vortrag und erst zuguterletzt auf den Inhalt.
Bei diesem Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen, Maren Kroymann, Heike Makatsch und Lars Eidingen (in gegenläufig alphabetischer Reihenfolge) gab es zunächst nämlich ein technisches Problem: Der Player meines Wagens weigerte sich, die MP3-Version zu erkennen. Freundlicherweise bot mir meine Frau ihren Wagen an, aber auch bei ihrer Version spuckte das Autoradio die Scheibe bei vier von fünf Versuchen wieder aus. Auf meinem Rechner schließlich lief das Produkt problemlos, allerdings nur im Ubuntu-Modus. Spaßeshalber probierte ich es auch mal mit dem Windows-Betriebssystem (#8). Ohne Einsatz von Entschlüsselungssoftware: Fehlanzeige. Natürlich verstehe ich das Anliegen der Medienindustrie, die eigenen Produkte vor Raubkopierern zu schützten, aber erstens gibt es schon wenige Tage nach Marktreife einer neuen Verschlüsselungssoftware die entsprechende Gegenversion (wahrscheinlich von selben Entwickler auf den Schwarzmarkt gebracht) und zweitens machen das ältere Geräte eben einfach nicht mehr mit.
Interessant: Bei der zweiten Scheibe des Hörbuchs, streckte auch mein CD-Laufwerk in der Ubuntu-Version die Waffen und erst der Einsatz eines hochwertigen externen Samsung-Laufwerks konnte „Rimini“ CD2 dann auch lesen. Da ich eine längere Osteuropa-Tour vor mir hatte, probierte ich es dann noch mit der Autoradio-Version des völlig ungepflegten VW Passats meines Kompagnons. Baujahr 2002. Das war damals, als VW noch saubere Diesel bauen konnte. Der Kompagnon hatte ein neues Gerät eingebaut und das fraß die Scheibe auch. Eine Empfehlung an den Hersteller: Liefern Sie doch künftig mit den CDs gleich das passende Auto dazu!
Oder lasst den Blödsinn mit der Verschlüsselung ganz. Dinge, die mir gefallen, kaufe ich ohnehin im Original, auch wenn ich sie in einer kopierten Version kennen gelernt habe. Das hat was mit Loyalität gegenüber dem Künstler und mit Sammelleidenschaft zu tun und weniger mit den völlig lächerlichen Raubkopier-Hinweisen, aber dazu müssten die Produkt-Verschleuderer wissen, wie Menschen ticken – und da fehlt es offenbar an Empathie, die über die Testgröße 1, nämlich den eigenen verdorbenen Charakter, hinausgeht.
So, das musste mal raus.
Die zweite Replik sei der Vortragstechnik gewidmet: Es hat eine gewisse Originalität, eine nicht dramatisierte Erzählung von verschiedenen Stimmen vorlesen zu lassen. Diese Grundidee gefällt. Der Regisseur versucht dabei, die eingesetzte Erzählerstimme möglichst dann wechseln zu lassen, wenn auch die Handlungsperspektive mit dem Protagonisten wechselt.
Da es in erster Linie um eine Familie: Vater, Mutter, Tochter und Sohn geht, und die Partner der Letzteren eine fast ausschließlich passive Rolle spielen, empfahl sich bei dieser Herangehensweise der Einsatz von vier Erzählern. Nun gibt es aber zahlreiche Dialogstellen mit wörtlicher Rede. Da aber werden alle Sprecher vom jeweiligen Abschnitts-Erzähler gelesen und das birgt als Ganzes gewisse Schwierigkeiten und Brüche, die ein wenig stören. Andererseits bieten sich gerade dadurch auch Chancen: Die besten Vorlese-Stellen nämlich finden sich genau da, wo Heike Makatsch (eigentlich den Part der „Mascha“ sprechend) die wörtliche Rede des Vaters Alexander intoniert. Da habe ich wirklich einfach nur gern zugehört: Die Person des Vaters gewinnt in Makatschs Auslegung an Farbe und man fängt an, den alten Muffel richtig lieb zu gewinnen.
Leider merkt man dem Werk an, dass die Erzählstimmen einzeln eingelesen wurden – das Fehlen der Interaktion der eigentlich geübten Schauspieler macht sich negativ bemerkbar. Normalerweise geht beim Vorleser-Wechsel der neu Einsetzende automatisch in Stimmlage und Sound auf seinen Vorredner ein, egal ob sympathisch oder antagonistisch. Man kann das sogar bei Talkshows und völlig gegenpoligen Gästen beobachten. Erst im Laufe einer längeren Tonpassage „rutscht“ der Sprecher in seinen angestammten Sound. Genau das passiert hier aber häufig nicht.
Organisatorisch ist das bei viel beschäftigten Schauspielern sicher verständlich. Künstlerisch aber nicht zu entschuldigen.
Nun zum von Sonja Heiss verfassten Inhalt des Ganzen.
Eigentlich höre ich Hörbücher bei meinen langen Autofahrten recht gern. Hier scheidet sich die Spreu vom Weizen. Und auch, wenn ich aufgrund einer guten Kinderstube die Spreu nicht einfach durchs Autofenster entsorge, so verbröselt sie sich doch bald zwischen Keksschachteln und Kaffeebechern im Fußbodenraum besagten VW Passats, dem „Sumpf“ wie Motor- und Generatorspezialisten diese Regionen zu nennen pflegen.
Wenn ich jedoch die Verpflichtung übernehme, eine Rezension abzufassen, so quäle ich mich auch durch die Werke, die ein Kreuzzugsgelübde gegen das anspruchsvolle Gemüt abgelegt haben, und so blieb „Rimini“ vom Ableben im Sumpf verschont.
Das hat sich zugegebenermaßen im Nachhinein gelohnt, denn erst als ich zwei Drittel dieses unsäglichen Albtraums vom uninteressanten Innenleben beziehungsgestörter Deutscher, die wahlweise hipp oder bodenständig zu sein vorgeben, hinter mich gebracht hatte, bemerkte ich, dass die Autorin eigentlich in nahezu avantgardistischer Manier gerade die neuesten Forschungsergebnisse über Depressionen in Literatur verarbeitet hat.
Den Schlüssel nämlich zu dieser Auto-Audiotüre lieferte mir die im gleichen Zeitraum stattfindende Klo-Lektüre der zweiten Auflage des Glanzmagazin # 2/2015 von „Gehirn&Geist“. Demnach ist die Definition von Depression sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM-5 vom Ansatz her ungenügend, weil sie nicht genderspezifisch ausdifferenziert. Anders gesagt: Männer und Frauen prägen die Krankheit unterschiedlich aus. Während sie bei Männern zu Gewaltausbrüchen führen kann (Typ Soprano), sind es eher Frauen, die das bislang gängige Verständnis von Depression prägten, dass man als Normalbürger so auf dem Schirm hat. Insofern wundert es nicht, dass die Thematik im Buch selbst aufscheint, als Tochter Mascha in den Telefonaten mit ihrem Vater dessen Frau wegen deren wochenlangen Schlafattacken eine zu behandelnde Depression bescheinigt. Ohne allerdings zu erkennen, dass sie, Mascha, selbst unter einer solchen leidet, was angesichts eines depressiven und selbstmordgefährdeten Vaters, der sich nach dem Ende seiner beruflichen Laufbahn Selbstmitleid als neuem Hobby verschrieben hat, und besagter Mutter ja auch wirklich kein Wunder ist.
Weitere depressive Varianten werden durch den Sohn, der sich typischerweise in seine Therapeutin verliebt, die außer der „Spiegeltechnik“ wohl auch nichts aus ihrer Studienzeit gelernt hat, und dessen maroden Umfeld vorgestellt.
Welche Lösung die Mascha aus ihren wie Perlen aneinandergereihten Lebenskrisen findet, entnehme der geneigte Leser aus meinem Untertitel.
Fachspezifisch also durchaus eine Illustration zu einigen interessanten Thesen.
Unterhaltungstechnisch so gähnens- wie vergessenswert.
Außer natürlich für Leute, die genau so ticken wie die Protagonisten und ihren kleinen Horizont für so etwas wie das Universum halten. Denen wird „Rimini“ gefallen.
Tüchersfeld, den 28.10.2017
Reinhard W. Moosdorf
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