Meine liebsten Bücher waren allzeit diejenigen, die Lust und Neugier auf mehr Lektüre anfachten: Dieses gehört ab jetzt dazu, ich habe es begierig gelesen und wurde bestens unterhalten.

Andreas Urs Sommer ist ausgewiesener Nietzsche-Fachmann, seine Kenntnis der Werke und der Biographie ist umfassend, und er beweist mit seinem Buch, dass Nietzsches Idee von der “fröhlichen Wissenschaft” sich in zeitgemäße Literatur umsetzen lässt, er tut das sprachlich elegant, fern aller ideologischen Blähungen und akademischen Flohknackerei. Sowohl der erste Teil, der sich mit Nietzsches Werken und den biographischen Umständen ihres Entstehens befasst, als auch der zweite, in dem er die Wirkungsgeschichte bis heute anhand prägnanter Beispiele erzählt, sprengt von den Texten in 130 Jahren angelagerte politische Krusten und Verfälschungen ab: Die Tiefe und Vielseitigkeit Nietzsches, die Risse und Konflikte in seinem Leben werden anschaulich, auch etliche Anlässe zu späteren Missverständnissen.

Mir gefiel besonders, wie Sommer Eigenarten der Originaltexte herausarbeitet, wie dadurch etwa Nietzsches Suche nach einem eigenen Verständnis von Wissenschaft und Kunst für den Leser einsichtig wird. Dabei ist keine Spur von “Heldenverehrung” oder, wichtiger noch, keine Spur jener von Medien penetrant geübten, billigen Häme beim Attackieren vermeintlicher Denkmäler im Spiel. So wurde mein Vergnügen bei der Lektüre etwa von “Menschliches – Allzumenschliches” neu geweckt, meine Distanz zum “Zarathustra” mir selbst erklärlich, mein Interesse an “mehr Nietzsche” insgesamt bestärkt.

Weil Nietzsche immer wieder Perspektiven und Stil wechselte, entzieht er sich freilich „einfachen“ Deutungen, und weil andererseits fast jeder aus seinen Texten nur lesen kann, was ihm eigene Wahrnehmung und mehr oder weniger bewusste Impulsverstärker zu erkennen geben, treibt Nietzsche wie kaum ein anderer Philososoph eine konflikthafte Rezeptionsgeschichte hervor. Es macht Andreas Urs Sommer sichtlich Spaß, deren zahllose Kapriolen und Katastrophen zu verfolgen, sich Verklärer und Verteufler vorzuknöpfen, dabei verfolgt er zugleich die stimulierende, „katalytische“ Wirkung der Werke für Philosophie, Kunst und Literatur bis in unsere Zeit.

Die Fälschungen und Klitterungen der Nietzsche-Schwester Elisabeth, die den Kult um den schnauzbärtigen Philosophen begründete, sind zwar längst offenbart, gleichwohl nutzt auch manch heutige Zitatenschleuder unbeirrt die dort entstandenen Zerrbilder und Klischees. Nietzsche selbst verabscheute deutschen „Bierernst“, Moralinsäure und Nationalismus; es ist eine bittere Ironie, dass ausgerechnet er, der ins Äußerste gesteigerte Individualität vorlebte, von kollektivistischen Schreihälsen wie Mussolini und Hitler in Dienst genommen wurde. Insofern bereiten Sommers Analysen  kommunistischer und nationalsozialistischer Versuche, den Philosophen für die je eigene Propaganda zu instrumentalisieren besondere Genugtuung: Sie konnten ihn als Ideengeber sowenig zerstören wie seine geschworenen Feinde.

Schön kurzweilig lesen sich Geschichten über allerlei Parodistisches und Satirisches zum Thema, ebenso das „Was wäre wenn…“ eine der illustren Frauen (Lou von Salomé, Frau von Bachofen, Cosima von Bülow) sich den eher unattraktiven Mann erwählt hätte. Und das ist nur eine aus einem Schwarm von Fragen des Autors am Ende des Buches. Auf die letzte, in einer Nachbemerkung: „Falls sich Nietzsche doch lohnt, für wen und warum?“ versuche ich eine Antwort: Nicht für Leute, die ihn als zitierfähige Autorität im Kampf um moralische Deutungshoheit benutzen wollen. Politbürokraten und ihre mediale Gefolgschaft, Heilsverkünder und die Kollektive von Hanni und Nanni, Krethi und Plethi, Hinz und Kunz in der Maskerade von Bessermenschen werden ihre liebe Not haben, Nietzsches Werke noch einmal in politische Stempelkästen zu quetschen. Dazu sind sie einfach zu explosiv.

Andreas Urs Sommer “Nietzsche und die Folgen”, J.B. Metzler Verlag Stuttgart 2017, 208 Seiten, 16,95 €