Montag, 02.04.2007 | 17:53 Uhr
Autor: Serendipity
Nach den ersten Seiten stehe ich in seinem Gedankensturm. Die kurzen Kapitel flimmern wie Szenen eines Films an mir vorbei, die unzähligen, portugiesischen Namen liegen wie Stolpersteine auf der Flucht. Ich begreife noch nicht worum es geht, bis ich Rafael endlich treffe, den Matrose, der von Utopia erzählt und aus seiner Heimat fliehen muss.
Wenn er liest, rollte Manuel Alegres tiefe Stimme die ‚Rs’ und reitet wie der Hauptmann in weißer Uniform mit Degen dem Publikum entgegen. Fast wie ein Gebet, wie ein Gedicht, klingen die ersten Passagen in mir nach. Später wird es ruhiger. Die Passagen aus den späteren Kapiteln erzählt ein alter Mann, der sich an die Einsamkeit des Exils erinnert. Träumerisch, die Suche nach Utopia noch nicht aufgegeben.
(…), es war besser, sie schämten sich meines Todes, als dass ich mich schämte zu leben.
Manuel Alegre ist Politiker. Sein dunkelblauer Anzug sitzt, sein Bart ist gepflegt und seine Augen blicken mit freundlicher Höflichkeit in die seiner Leser.
Manuel Alegre ist Dichter. Während der Lesung lauscht er gespannt dem Rhythmus den seine Worte in der fremden Sprache seines Übersetzters bilden.
Dieser Teil des Lebens ist nur dein eigener. Niemand will davon wissen. Wenn du später davon erzählst, wird man Thema wechseln. Sogar deine Freunde tun es. Es bleibt kein anderes Mittel, außer darüber zu schreiben, als erzähltes du es dir selbst. Der Krieg, das Gefängnis, der Sprung, das Exil. Das Umhergetriebensein, heute das eine Hotel, morgen das andere, immer auf der Suche nach einem Kontakt, dabei ohne Bleibe, ohne ein Obdach, ohne eine sichere Stätte überhaupt, wer wird die Zurückweisung verstehen, den Bruch mit beinahe allem, der Heimat, der Familie, geliebten Menschen, wer wird die Geduld aufbringen, diese Geschichte anzuhören, ohne feste Zeiten, ohne Alltag, ohne eine Richtung überhaupt? Und wie vorgeben, man würde verstehen, dass man im Namen einer mehr als hypothetischen Revolution abtat, was doch eine, wer weiß, vielleicht sogar glänzende Laufbahn hätte sein können?
Und dann hole ich Luft, für uns beide, Rafael und mich, und lese und lese, als ob ich ihm dadurch eine Heimat geben kann.
Manuel Alegre ist Rafael. Er ist sein eigenes jugendliches Selbst und das vieler anderer auf der Flucht vor der Salazar Diktatur Portugals in den 60iger Jahren. Er ist die Einsamkeit der Exilanten in Paris und Algerien. Rafael ist kein Buch über Politik oder Revolution, aber es ist ein politisches Buch. Es ist die Geschichte eines Bürgers, der seine Heimat verliert. Eines jungen Idealisten, der zweifelt, sie je dort wiederzufinden, wo er sie verloren hat, sie vielleicht nie wieder zu finden. Aber Rafael findet sein Zuhause in der Sprache.
Das war, was er sagte, die Dichtung ist die Macht, deshalb lassen die Diktatoren uns festnehmen und töten, genau deshalb und nur deshalb: die Dichtung ist die Macht.
Nun ist der Dichter an der Macht. Mit dem Beginn der Nelkenrevolution 1974 kehrte Manuel Alegre nach zehnjährigem Exil nach Portugal zurück. Als Mitglied der Sozialistischen Partei Portugals ist er seit 1975 Abgeordneter. 2006 hat er sich als unabhängiger Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen aufstellen lassen und nur knapp verloren. Seither ist der Dichter Vizepräsident seiner Heimat.
Mit Rafael hat Manuel Alegre seinem Land ein großes Buch geschenkt. Markus Sahr hat es mit Feingefühl übersetzt und dem Leipziger Literaturverlag kann zu diesem Fund nur beglückwünschen.
Tags: Leipziger Literaturverlag, Literatur, Manuel Alegre, Rafael
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