Montag, 08.03.2010 | 15:09 Uhr
Autor: hedoniker
Im Laufe seines Studiums der Komparatistik galt es für den Rezensenten dereinst, eine Lektüreprüfung abzulegen. Auf der Liste der zu lesenden Bücher befand sich auch „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“, der barocke Romankoloss, der in vielen Bücherregalen zu finden war, zumeist aber in jungfräulicher, d.h. ungelesener Gestalt. Eine erste, kurze Begegnung hatte man bereits im Geschichtsunterricht, in dem die Szene des Überfalls auf den Hof der (vermeintlichen) Eltern exemplarisch für die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges stand. Man wusste also, was ein „Schwedentrunk“ ist, mehr vom Inhalt kannte der Rezensent damals nicht. Nun galt es also, die Lektüre zu vollziehen. Damals kannte man das Wort prokrastinieren nicht, ließ sich aber nicht davon abhalten, es trotzdem zu tun. Kurzum, der Tag der Lektüreprüfung rückte näher und man erkannte, dass „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“ mitnichten mal eben schnell noch zu lesen war. Nicht nur, weil er doch eine beachtliche Länge hat. Die Sprache war es, welche die Lektüre durchaus zäh und langwierig machte.
„Es eröffnet sich zu dieser unserer Zeit (von welcher man glaubt, daß es die letzte sei) unter geringen Leuten eine Sucht, in der die Patienten, wenn sie daran krank liegen, und so viel zusammen geraspelt und erschachert haben, daß sie neben ein paar Hellern im Beutel ein närrisches Kleid auf die neue Mode mit tausenderlei seidenen Bändern antragen können, oder sonst etwa durch Glücksfall mannhaft und bekannt worden, gleich rittermäßige Herren und adelige Personen von uraltem Geschlecht sein wollen; da sich doch oft befindet, daß ihre Voreltern Taglöhner, Karchelzieher und Lastträger; ihre Vettern Eseltreiber; ihre Brüder Büttel und Schergen; ihre Schwestern Huren; ihre Mütter Kupplerinnen oder gar Hexen; und in Summa ihr ganzes Geschlecht von allen 32 Anichen her also besudelt und befleckt gewesen, als des Zuckerbastels Zunft zu Prag immer sein mögen; ja sie, diese neuen Nobilisten, sind oft selbst so schwarz, als wenn sie in Guinea geboren und erzogen wären worden.“
So lautet der erste Absatz und gleichsam auch der erste Satz. Nachdem man dieses Satzungetüm für sich geordnet hatte, blieb noch zu klären, was Karchelzieher (Karrenzieher) und Anichen (Ahnen) sind und was sich hinter Zuckerbastels Zunft verbirgt (Prager Diebesbande).
Lange Rede, kurzer Sinn, die Lektüre war nicht mehr zu schaffen und Spaß daran hatte man auch nicht. Also schaute man in Kindlers Literaturlexikon, merkte sich ein paar inhaltliche Aspekte und Deutungsmöglichkeiten und hoffte, dies würde für die Lektüreprüfung reichen. Es reichte, was aber vor allem daran lag, dass die Diskussion über „Effi Briest“ in die Länge gezogen wurde, so dass für den Simplicissimus keine Zeit mehr blieb.
Dabei wäre es vermutlich geblieben, wenn nicht Reinhard Kaiser eine Übersetzung „Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts“ vorgelegt hätte.
Nun mögen Puristen die Frage stellen, ob eine Übertragung in zeitgenössisches Deutsch nicht eine Art Kapitulation sei. Eine Kapitulation davor, dass Literatur mitunter Anstrengung erfordert. Diese Frage stellt sich nie bei Übersetzungen aus anderen Sprachen. Durch (gelungene) Neuübersetzungen beginnen literarische Werke wieder zu funkeln. Übersetzungen sind immer auch Ausdruck des Geistes der jeweiligen Epoche. Um vieles ärmer wäre die Literaturlandschaft, wenn wir nur die Tieck’schen Shakespeareübersetzungen hätten und auf die Übersetzungen von Erich Fried oder Wolf Biermann verzichten müssten.
Die literarische Übersetzung ist ein Mittel, um Literatur lebendig zu halten, sie, wenn nötig, aus einem erstarrten Gebilde zu neuem Leben zu erwecken.
Den Simplicissimus einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen, ist ein Unterfangen, das man nicht genug loben kann.
Reinhard Kaiser, ehemaliger Lektor, Autor und Übersetzer u.a. von Susan Sontag, H.D. Lawrence und Sylvia Plath, ist es gelungen, diesen gewaltigen Roman (wieder oder neu) lesbar zu machen, ohne ihm etwas von seiner Vielschichtigkeit, seinen Mehrdeutigkeiten und seiner Komik zu nehmen. Die neue Sprache passt sich behutsam dem Original an, sie biedert sich nicht dem heutigen Leser an.
Er übersetzt Worte, die verloren gingen und er ersetzt Worte, deren Bedeutung sich im Laufe der Jahrhunderte veränderten (im Nachwort führt Kaiser als Beispiel „etliche“ an, damals „einige wenige“, heute „sehr viele“).
Um die Qualität der Übersetzung beurteilen zu können, reicht es, eine beliebige Stelle mit der des Originals zu vergleichen (es empfiehlt sich grundsätzlich, begleitend das eine oder andere Kapitel des Originals parallel zu lesen) .
„Als ich dergestalt mit einem Teller in der Hand vor der Tafel aufwartete, und in meinem Gemüt von allerhand Tauben und merklichen Gedanken geplagt wurde, ließ mich mein Bauch auch nicht zufrieden, er kurret und murret ohn Unterlaß, und gab dadurch zu verstehen, daß Bursch in ihm vorhanden wären, die in freie Luft begehrten; ich gedacht, mir von dem ungeheuren Gerümpel abzuhelfen, den Paß zu öffnen, und mich dabei meiner Kunst zu bedienen, die mich erst die vorig Nacht mein Kamerad gelehret hatte; solchem Unterricht zufolg hub ich das linke Bein samt dem Schenkel in alle Höhe auf, drückte von allen Kräften was ich konnte, und wollte meinen Spruch ›Je pète‹ zugleich dreimal heimlich sagen; als aber der ungeheure Gespan, der zum Hintern hinauswischte, wider mein Verhoffen so greulich tönete, wußte ich vor Schrecken nit mehr was ich täte,[…].“ (1. Buch, 31. Kapitel)
Bei Kaiser liest sich die Stelle wie folgt:
„Während ich so mit einem Teller in der Hand vor der Tafel aufwartete und mir der Kopf brummte von allerlei quälenden Phantasien und seltsamen Gedanken, ließ mich auch mein bauch nicht in Ruhe. Er rumorte ohne Unterlass und gab dadurch zu verstehen, dass Burschen in ihm wären, die an die frische Luft wollten. Ich beschloss, mich dieses ungeheuren Gerumpels zu entledigen, den Übergang zu öffnen und dabei jene Kunst anzuwenden, die mich mein Kamerad erst am Abend vorher gelehrt hatte. Also hob ich das linke Bein samt dem Schenkel, so hoch ich konnte, drückte mit aller Kraft und wollte dazu meinen Spruch Je Pète dreimal leise vor mich hin sagen. Doch als der ungeheure Kamerad, der mir zum Hintern hinauswischte, wider Erwarten gräulich laut daherkam, wusste ich vor Schreck nicht mehr, was ich tat.“
Im Original besteht dieser Absatz aus einem einzigen Satz, der zudem noch etwa denselben Umfang nochmals aufweist. Kaiser hat dem Text Struktur gegeben, indem er ordnende Absätze einfügt und Bandwurmsätze sinnvoll trennt. Der Text wird geglättet, ohne glatt zu werden.
Denn glatt ist sie nicht, die Geschichte des Melchior Sternfels von Fuchshaim, die Christoffel von Grimmelshausen unter dem Namen German Schleifheim von Sulsfort (ein Anagram seines Namens) im Jahr 1668 (datiert 1669) veröffentlichte.
Schon über die Einordnung des Romans herrscht Uneinigkeit. Gemeinhin als Schelmenroman bezeichnet, greift dies zu kurz. „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“ vereint zahlreiche Lesarten in sich. Er ist sowohl Schelmen- als auch Abenteuerroman, er entwirft in Andeutungen eine gesellschaftliche Utopie. Als ethisch- moralische Lehrstück ist der ebenso lesbar wie noch immer zutreffend. Die Aufzählung ließe sich noch um Kriegs- bzw. Antikriegsroman, Reisebericht oder Gesellschaftssatire ergänzen. Im letzten Teil findet sich die thematische Vorwegnahme des „Robinson Crusoe“.
Das Nachwort gibt einen Überblick über die autobiografischen Elemente, die Grimmelshausen in den Roman einfließen ließ. Aus den Anmerkungen lassen sich die Quellen, auf die der Autor zugriff, herauslesen. Besonderes einflussreich war Tommaso Garzonis „Piazza universale“ aus dem Jahr 1585. Viele Details entstammen dem 1619 unter dem Titel „Allgemeiner Schauplatz aller Kunst, Professionen und Handwercken“ auf Deutsch erschienenen Werk, dass ein Schlüsselwerk zum Verständnis der Epoche ist und dessen Neuübersetzung, ganz nebenbei, würdiger Teil der Anderen Bibliothek wäre.
Die Anmerkungen sind sparsam eingesetzt, sie stören den Lesefluss nicht. Darin liegt wiederum eine Qualität der Übersetzung, weil vieles aus dem Text selbstverständlich wird und die Anmerkungen ‚nur’ noch ergänzen. Aus der eingangs erwähnten „Zuckerbastels Zunft“ wird das erklärende „Zuckerbastels Diebeszunft“. Die Anmerkung weist die Quelle dazu aus.
Und so können wir uns an der Lektüre eines der prallsten Romane der deutschen Literatur erfreuen.
Neben all den Deutungsmöglichkeiten und Lesarten ist es auch ein wunderbarer Schmöker, in dem es ordentlich rummst und knallt, dem nichts Menschliches fremd ist, der wunderbar komisch, grausam, nachdenklich und spannend zugleich ist. Dies alles in eine würdige neue Sprachform gebracht zu haben ist das Verdienst von Reinhard Kaiser und macht dieses Buch zu einem literarischen Ereignis.
Hans Jacob Christoffel Grimmelshausen
Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch
Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts von Reinhard Kaiser
768 Seiten
49.95 Euro, 79.00 sFr
Eichborn
ISBN:9783821847696
Die Originalpassagen sind übernommen aus dem Projekt Gutenberg
Tommaso Garzoni, Piazza universale bei Google Books.
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08.03.2010 um 19:11 Uhr
[…] Und wie begeistert ich davon war, steht im Blog Literaturwelt. […]
09.03.2010 um 11:23 Uhr
Danke für den interessanten und mit Vergnügen gelesenen Artikel – eine gelungene Lektüreempfehlung!
18.03.2010 um 13:20 Uhr
Ich denke, daß Zauberwort lautet „behutsam“.
Als früher Jugendlicher habe ich um 1970 herum eine Ausgabe des Simplizissimus von 1932 verschlungen. Ich verstand die Geschichte ausschleßlich als Abenteuer.
Im Alter von ca. 40 Jahren habe ich mich eine Weile sehr intensiv mit der Geschichte des 30jährigen Krieges beschäftigt und las eine wesentlich ältere Ausgabe. Hier fand ich die Authenzität des gemeinen Volkes, die ich suchte.
Alles in allem ein grandioses Werk. Und da ich derzeit nach einer leicht lesbaren Version suche, werde ich Ihrer Empfehlung wohl folgen.
Vielen Dank für die Rezension.
Georg
22.03.2010 um 1:17 Uhr
Vielen Dank! Ein wirklich interessanter Artikel. Wenn ich wieder Zeit habe, ist das mein nächstes Buch!
08.06.2010 um 11:12 Uhr
[…] Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts von… […]