Samstag, 03.12.2005 | 13:25 Uhr
Autor: Oliver Gassner
Wie erwähnt: gestern war ich abends auf der Lesung von Martina Kieninger aus ihrem neuen Buch „Die Leidensblume von Nattersheim„. Vorsteller und Interviewer war Denis Scheck, der den Text schon prima fand, als er 2000 beim Bachmann-Wettbewerb vorgetragen wurde.
Worum geht es? Um Emma, die ‚Leidensblume‘, die im mystischen und seherischen Nacherleben des Leidens Jesu Wundmale entwickelt, sich lediglich von einer Hostie pro Tag ernährt und angeblich auch keine Ausscheidungen hat. Vom Zweifel des Rottenburger Bischofs, der Stimmung im ‚Pietkong‘ zwischen Tübingen und Rottenburg, dem Schlachtfeld zwischen Protestantismus und Katholizismus, zwischen Küng und Ratzinger, und um den Bilderkanon (Kieninger sagt: die Bilderflut) des Katholizismus in dessen Schoß Martina Kieninger selbst aufwuchs. Emma, die Metzgerstocheter, die Mercedes („Gnade“ – oder die Gnädige?) hätte heißen sollen, nimmt angeblich auch das Leiden Kranker auf sich, heilt sie so und hat finanzkräftige Sponsoren, die auch mal schnell größere Kirchenprojekte finanzieren.
Inzwischen bin ich selbst bei Kapitel zwei und finde, die Regel, dass man aus dem Anfang eines Romans seinen Stoff für Lesungen wählen soll, bewährt sich. Mit scheint der Stil dort dichter und Kieninger-typischer als im bei der Lesung vorgetragenen Kapitel 4. Denn die gedrechselten Sätze , die Denkverbiegungen, die Neologismen sind dort dichter gestreut und das Netz der Figuren ist dort pointierter skizziert als später.
Und ich frag mich auch immer, ob diese Autoreninterviews (zumal bei Nervosität ;-)) so viel mehr bringen als die doppelte Lesezeit mit Blick in die Texte selbst, auch wenn es unter anderem um die Frage des aktuellen Zustands der Netzliteratur ging, der mir zwar am Herzen liegt und aus dessen Zusammenhang Martina Kieningers Schreiben stammt (- aber nicht nur) oder um den Einfluss des Computers auf die Art von Texten, die Entstehen (MK – die übrigens alle ihre Texte im Unix-Editor vi tippert – sagt: Kitsch hat es schwerer auf dem kalten Bildschirm. Was man glauben oder bezweifeln kann und was also begrenzten Erkenntnisgewinn hat.)
Also ganz unabhängig vom Moderator [Hallo Andrea *g*]: Lasst die Autoren lesen und sagt Moderation und Publikum, sie sollen sie nicht ausfragen. Es steht alles Gute in den Texten. Vor allem bei Texten, wie dem von Martina Kieninger. (Und zahlt den Autoren lieber das Moderatorenhonorar auch noch aus 🙂 )
Noch ein paar Randnotizen:
* Der Text sollte ursprünglich eine andere Hauptfigur haben, aber Emma hat sich sozusagen von selbst in den Vordergrund gedrängt.
* Martina Kieninger fühlt sich von diversen Rezensenten missverstanden, die den Text als ironisch (er ironisiert wenn dann den Wissenschaftsbetrieb) oder Satire auf den Katholizismus einerseits oder als eine Analyse von dessen ‚Kern‘ lesen.
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