Freitag, 06.05.2011 | 12:43 Uhr
Autor: JosefBordat
Markus Reiter singt ein flottes Loblied auf das Mittelmaß – gegen die Exzellenz-Hymnen unserer Tage
Wer in einem beliebigen Medium eine beliebige Debatte zu einem beliebigen Thema aus Wirtschaft, Politik, Sport, Kunst, Bildung oder Wissenschaft verfolgt, wird irgendwann auf die These stoßen, dass die Spitzen der jeweiligen Gesellschaftsbereiche zu fördern seien, um der Masse eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Der Publizist Markus Reiter stellt diese These auf den Kopf und erinnert daran, dass jede Spitze eine Stütze braucht, eine breite Basis, ein Fundament: „Wer sich das Mittelmaß wegdenkt, wird die Spitze einbrechen sehen.“. Somit sei es sinnvoller, die Masse zu fördern als sich auf die Top-Performer zu konzentrieren.
Reuter depotenziert schillernde Phänomene wie „Hochbegabung“ oder „Elite“ auf das, was sie gesellschaftlich betrachtet sind: überschätze Randerscheinungen. Statt dessen lenkt er den Blick auf das, was eigentlich nicht zu übersehen ist, aber oft keine Beachtung erfährt: das Mittelmaß. Reiter denkt bei „Mittelmaß“ an die Tugend der Mäßigung, an den Mittelweg zwischen den Extremen, an den stabilisierenden Mittelbau in Organisationen, an eine gesellschaftliche Balance, einen Ausgleich und an Anerkennung für all diejenigen, die tun, was sie können, aber eben nichts Besonderes zu tun vermögen. Davon grenzt er die „Mittelmäßigkeit“ als Ergebnis mangelnden Muts und fehlender Leistungsbereitschaft ab. Denn Leistung muss auch der Mensch im Mittelmaß bringen: „Mittelmaß heißt nicht Stillstand, heißt nicht, sich treiben zu lassen. Auch das Mittelmaß bedarf steter Anstrengung und eines gewissen Eifers.“
Um seine Vorstellung vom Wert der Mitte zu belegen, bedient sich Reuter der Mittelmaß-Diskurse (die oft verkappte Elite-Diskurse waren oder sind) in Geschichte und Gegenwart. Er kommt so zu einer interessanten Analyse ideenhistorischer und aktueller Beiträge zum Mittelmaß. Platons elitärem Ständedenken und der romantisiert-verklärten Antikenrezeption des 19. Jahrhunderts stellt der Autor das Lob des „richtigen Maßes“ entgegen, das in so unterschiedlichen Tradition wie der Stoa, der christlichen Philosophie des Mittelalters und der Aufklärung vorzufinden ist. Kant etwa ist der Ansicht, das Mittelmaß sei „das Grundmaß und die Basis aller Schönheit“.
Dem interessanten Ausflug in die Ideengeschichte hätte ein Abstecher zur fernöstlichen Philosophie gut getan, bei der die „goldene Mitte“ als Sinnbild für Ausgleich und Harmonie in einer bipolar gedachten Welt eine Schlüsselrolle spielt. So bleibt die philosophische Perspektive auf Europa begrenzt; die nachfolgende Diskussion der (bildungs-)politischen Bedeutung des Mittelmaß erfolgt im Wesentlichen mit Blick auf Deutschland.
Gerade dabei wird deutlich: Während totalitäre Regime wie Faschismus und Kommunismus an Platon anknüpften (Reuter: „Nationalbewegung, Kaiserreich, Nationalsozialismus, kommunistische Diktatur . Sie alle lehnten das Mittelmaß ab“) bereitet das maßvolle Denken der Demokratie den Boden. Es wird zum Erfolgsgaranten der Bonner Republik: An der Geschichte der „Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre“ lasse sich, so Reuter, erkennen, „dass Mittelmaß und Mäßigung nicht ein Hindernis, sondern sogar ein Grund für Erfolg in der Welt sein können.“ Ein Denkzettel für alle, die Deutschlands Zukunft in der globalisierten Welt von Eliten und Exzellenzen abhängig machen.
Die gut begründeten und stringent ausgeführten Schlussfolgerungen des Autors haben wieder Relevanz für alle Gesellschaften. Auch und gerade die Hochleistungssysteme Ostasiens und die aufstrebenden Regionen Südasiens und Südamerikas sollen sich, bei aller Aufstiegs- und Leistungsorientierung ihrer Bewohner, der Bedeutung des Mittelmaßes bewusst sein. Markus Reiter hält das Mittelmaß jedenfalls für „das menschengerechteste Maß“. Tatsächlich: Immer oben sein, immer siegen wollen – diese Exzellenz-Mentalität (Reiter spricht von „Tyrannei“) hat für viele Menschen den Zustand andauernder Überforderung zur Folge. Insoweit ist sein „Lob des Mittelmaßes“ richtig und wichtig. Nicht zuletzt scheint das Maßhalten Teil einer Strategie zur Volksgesundheit zu sein, denn viele der modernen Seuchen wie Depressionen oder Schlafstörungen sind durch Stress bedingt, durch den Stress des allgegenwärtigen „Schneller, höher, weiter“.
Das Lob der Mitte sollte jedoch nicht dazu führen, das Mittelmaß als idealen Lebensentwurf für alle Menschen zu betrachten, gewissermaßen als „Maß aller Dinge“. Es braucht auch die Genies, die Einsteins, van Goghs und Messis, die ihrerseits – das macht Reiter deutlich – ohne die tragende Mitte nichts schaffen könnten, denn die Leistungspyramide, die sie erklommen haben, braucht eine breite, stabile Basis. Zudem bietet das Gewöhnliche den Hintergrund, vor dem erst sich das Besondere erkennbar abhebt. Das Mittelmaß wird zum Kontrastmittel, ohne das die Spitze gar nicht als solche identifiziert werden könnte. Zugleich bedeutet die von Reiter geforderte Wertschätzung für diese grundlegende Rolle der Mitte keine Verabsolutierung ihres „mäßigen“ Wesens, im Gegenteil: auch im Hinblick auf das Mittelmaß muss eine Fußballmannschaft, eine Organisation und eine Gesellschaft das richtige Maß finden. Nur noch Mittelmaß, das geht nicht. Auch hier gilt: Maß halten!
Markus Reiter: Lob des Mittelmaßes. Warum wir nicht alle Elite sein müssen
oekom verlag, München 2011
96 Seiten, 12,95 EUR
ISBN-13: 978-3-86581-239-1
Josef Bordat
Mit flattr kann man Bloggern mit einem Klick Geld zukommen lassen. Infos
17.05.2011 um 18:21 Uhr
hmm interessante Sicht. Wenn man Leistungsmäßig hervorsticht, dann liegt man eher im Fokus als jemand, der im Mittelmaß verschwindet. Man erhöht auch die Erwartungen an die eigene PErson.