Freitag, 15.04.2016 | 14:47 Uhr

Autor: rwmoos

Gideon Böss: Deutschland, deine Götter

Deutschland, deine Götter: Eine Reise zu Kirchen, Tempeln, Hexenhäusern

Er- oder Beleuchtet?

In Rempesgrün, einen kleinen Ortsteil von Auerbach im Vogtland mit geschätzten hundertfünfzig Einwohnern, der nicht einmal mehr über ein grünes Ortsteil-Schild heraus zu filtern ist, gibt es eine kleine religiöse Gemeinschaft: Die Rempesgrüner. Offizieller Name: Christliche Versammlung Rempesgrün.
Die gibt es nur hier, und wer in Rempesgrün geboren ist und sich religiös betätigen möchte, ist dort mit Sicherheit gut aufgehoben. Alle anderen sollten sich etwas Anderes suchen.

Und schon steht man vor der Frage: Welche Religion passt eigentlich zu einem?

Die zugrunde liegende Idee klingt gut: Warum sollte man die Religionen nicht ähnlich bewerten wie die Parteien! Dort werden im Internet schon lange Wahl-O-Meter angeboten. Indem man die persönlichen Präferenzen benennt, kann man sich jene Partei zur Wahl empfehlen lassen, die einem am nächsten kommt. Für Religionen ist diese Idee aber auch nicht neu. Dergleichen konnte man schon Ende der Neunziger im Netz testen. Man sieht sich auf dem Markt um und findet das, was einem zusagt.

Doch grau ist alle Theorie und deshalb erweiterte Gideon Böss nun in „Deutschland, deine Götter“ besagten Grundgedanken: Er machte sich quer durch Deutschland auf die Socken, um aus erster Hand etwas über 26 relevante Religionen zu erfahren, die hierzulande praktiziert werden. Die beiden christlichen Großkirchen, sunnitischer und schiitischer Islam, die Aleviten und natürlich das Judentum sind ebenso dabei wie Scientology und diverse Freikirchen. Die weitere Auswahl ist vielleicht etwas willkürlich, was aber wenig zur Sache tut, da die Schnittmenge durchaus als repräsentativ gelten darf.

Das beste Kapitel ist vielleicht gleich das erste, in dem ein Besuch bei einer Wicca-Hexen-Familie geschildert wird. Eine unentspanntere Art der Ausübung persönlicher Religiosität ist kaum vorstellbar. Wobei der ungeübte Leser sogleich erfährt, dass dort auch Männer Hexen heißen und nicht etwa Hexer oder Hexenmeister.

Die Interviews, die Gideon Böss führt, sind durchweg humorvoll, spritzig und nehmen das Gegenüber trotzdem ernst. Diese Ernsthaftigkeit scheint auch rüber zu kommen und somit erwidert zu werden – eine Grundvoraussetzung, um das locker geschriebene Büchlein trotzdem wichtig erscheinen zu lassen. Angehende Theologiestudenten können sich nach der Lektüre die halbe Vorlesung in Religionskunde sparen.

Andererseits: Auch wenn Gideon Böss die Interviews mit von ihm geleisteter Hintergrundlektüre anreichert, sind hie und da doch mächtige Lücken, die einer gründlicheren Wissensvermittlung im Wege stehen und damit den ins Auge gefassten Religionen und Richtungen nicht immer gerecht werden. Als Beispiel sei die doch recht mangelhaft beleuchtete Beziehung zwischen der Bezeichnung „Imam“ und „Mahdi“ bei den Zwölfer-Schiiten genannt.
Wieder andererseits: Ist Religion wirklich nur die verfasste Lehrmeinung einer Gruppe oder nicht vielmehr – oder zumindest gleichberechtigt auch – die gelebten Formen vor Ort? Gerade Letztere einmal beleuchtet zu haben, ist geradezu ein wissenschaftliches Verdienst des so unscheinbar salopp daher kommenden Büchleins. Da kommt ihm auch zugute, dass die Gesprächspartner nicht immer die leitenden Persönlichkeiten der Gruppe sind.

Kleine Abzüge gibt es in der B-Note: Dass der Autor in der Schule beim Kapitel über Napoleon III. krankheitshalber gefehlt hat, die diesbezüglichen Aussagen deshalb fälschlicherweise auf Napoleon Bonaparte bezieht und sich im Abschnitt über Bahai dementsprechend aus Unwissenheit lustig macht, bringt das ganze Kapitel in eine unschöne Schieflage. Es gäbe doch immer noch genug andere Merkwürdigkeiten, über die sich auszulassen lohnte. Auch der Umgang mit großen Zahlen will geübt sein: Bei der Division von sieben Milliarden Menschen durch eine Million Erleuchtete kommt der Autor immer noch auf 70 Millionen. Autsch!
Später erfährt man allerdings, dass der gute alte Bhagwan ähnliche Fehler beging, die ihm von seiner nunmehrigen Anhängerschaft der Osho-Bewegung als absichtlich verstörend wirkende Weisheit angerechnet werden. Wie der Autor zwiefach betont, würde auch er gern seinen Namen in einer Religionsgemeinschaft verzeitlicht finden. Vielleicht ist fragliche Arithmetik ja der gewollte erste Schritt dazu.

Im Wohnzimmer der Lahore-Ahmadiyyadim dürfte auch schwerlich eine Farbaufnahme der Kabbala hängen (S. 212). Jene verschwiegene jüdische Lehre wäre deutlich schwerer abzulichten als die sicherlich gemeinte Kaaba – aber solche kleinen Fehler können schon mal passieren, wenn man sich durch einen Wust mehr oder minder merkwürdiger Ansichten zu quälen hat.

Trotz der frischen Sprache und der jederzeit putzig daher kommenden Vergleiche hat das Buch seine Längen. Das wiederum liegt wohl am Gegenstand selbst: Nicht jede Religion wurde nach Kriterien des Unterhaltungswerts kreiert. Aber da der Autor hier erfolgreich Kompensationsarbeit leistet, bleibt alles im erträglichen Rahmen. Die Empfehlung des Rezensenten zielt dennoch darauf, das Buch kapitelweise zu lesen und es nicht in einem Stück konsumieren zu wollen.

Im Wikipedia-Artikel zu Gideon Böss, wird dieser als Agnostiker bezeichnet. Seine vorliegende Herangehensweise an die Sache jedoch impliziert einen gewissen Durst nach Gläubisch-Sein. Die Fragestellung nach dem Leben nach dem Tod kommt zwar immer wieder scheinbar neutral interessiert daher, doch indem er den „Glaubens-Profis“ fast vorwirft, wenn sie darauf keine Antwort geben können und wollen, scheint bei ihm eine Unsicherheit auf, die leider bei vielen Gewohnheits-Atheisten zu beobachten ist: Man argwöhnt, dass sie lediglich noch nicht das richtige Angebot gefunden haben. Käme es, so schmölze ihre Agnostik gar schnell dahin. Das ist ein trauriges Gefühl, das einem da beim Lesen gelegentlich überkommt.

Unerwartet stark das Ende: In seiner Zusammenfassung gelingt Gideon Böss noch einmal auf zweieinhalb Seiten ein Fazit, das für sich selbst spricht und deshalb hier nicht wiedergegeben sondern selbst gelesen werden soll.

Damit hätte es sein Bewenden haben können. Doch dann folgt noch eine weitere halbe Seite, die wieder jenes eben erwähnte Sehnsuchtsgefühl nach erlebbarer Religion transportiert. Das kann man verstehen. Oder verachten. Oder beides.

Vielleicht findet der Autor die gesuchten Antworten ja in Rempesgrün.

Tüchersfeld, den 15.04.2016

Reinhard W. Moosdorf

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Ein Kommentar

  1. Neues Buch: Hexen, Aliens, Spaghettimonster – Deutschland, deine Götter @ gwup | die skeptiker Says:

    […] “Deutschland, deine Götter”, Literaturwelt am 15. April […]

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