Montag, 21.11.2011 | 10:11 Uhr
Autor: Andreas Schröter
Der berühmte Fritzl-Fall ist Grundlage für Emma Donoghues Roman „Raum“. Bekanntlich hat Josef Fritzl seine Tochter 24 Jahre im Keller seines Hauses eingesperrt und mit ihr mehrere Kinder gezeugt. In „Raum“ hält „Old-Nick“ eine Frau, die er zuvor gekidnappt hat, sieben Jahre in einem Gartenhäuschen gefangen. Auch sie hat einen vom Täter gezeugten Sohn. Er heißt Jack und ist fünf Jahre alt, als die Handlung einsetzt. Der komplette Roman schildert die Sicht des Jungen. Jack ist in „Raum“ geboren, hat diesen noch nie verlassen und glaubt, dass diese zwölf Quadratmeter die ganze Welt sind. Alles, was er im Fernsehen sieht, hält er für nicht real. Doch dann erzählt ihm seine Mutter die Wahrheit und die beiden planen ihre Flucht …
Bis zur Hälfte ist „Raum“ enorm spannend. Können sich die beiden gegen ihren Peiniger zur Wehr setzen? Gelingt ihnen vielleicht sogar die Flucht? Fast fühlt man sich als Leser selbst eingesperrt. Der immer gleiche Tagesablauf der Gefangenen wirkt extrem bedrückend, und man traut sich kaum, die Seiten umzublättern – aus schierer Angst, das „Piep Piep“ könnte wieder ertönen. Es zeigt an, dass „Old Nick“ im Anmarsch ist. Er wirkt gefährlich, denn er hat die Macht, Mutter und Kind zu töten – zum Beispiel, indem er den beiden keine Nahrung mehr bringt. Einmal bestraft er sie, indem er den Strom abstellt. Sie frieren und können die Lebensmittel nicht mehr länger frisch halten.
Weil der Leser alles nur aus der Sicht eines Fünfjährigen erfährt, wirkt die Lage von Mutter und Kind noch bedrohlicher: Das unschuldige, herzerweichend naive Kind bildet einen starken Gegensatz zur Brutalität des Täters. Das erzeugt beim Lesen eine enorme Spannung und eine große Sympathie mit den Eingesperrten. Weil Jack immer in den Schrank muss, wenn Old-Nick erscheint, werden die Vergewaltigungsszenen nur indirekt dargestellt. Auch dies ist ein Plus, das sich aus der für den Leser eingeschränkte Sicht durch den Kopf des Kindes ergibt.
Im zweiten Teil ändert das Buch komplett seinen Tenor: Den beiden, soviel sei hier nun doch verraten, gelingt die Flucht nach draußen – wenn auch äußerst knapp. Von nun an geht es nur noch darum, wie sich Mutter und Sohn in der vor allem für den Jungen komplett fremden Welt zurecht finden. Dieser Buchteil hat ebenfalls seinen Reiz, weil er uns unsere Welt aus der Sicht eines Menschen zeigt, der bislang nicht in ihr gelebt hat. Das fördert einige zum Teil auch für Erwachsene interessante Einsichten zutage. Aber weil den letzten 200 Seiten komplett die atemberaubende Spannung des ersten Teils fehlt, hat mir Teil eins eindeutig besser gefallen. Vielleicht hätte die Autorin, die 1969 in Dublin geboren wurde, diesen Part etwas kürzen sollen. Insgesamt dennoch ein ungewöhnliches und interessantes Buch.
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Emma Donoghue: Raum.
Piper, August 2011.
410 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.
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