Dienstag, 20.03.2007 | 16:47 Uhr

Autor: molosovsky

Die vermeindliche Wirklichkeitsflucht (eine etwas polemische Erwiderung)

Hendrik Werner berichtet im Vorfeld der Buchmesse über den ›neuen‹ Fantasy-Mystery-Boom in der »Die Welt«, Titel (gaaanz unreißerisch:) »Drachenblut und Satansbrut«. Naja. Wenigstens reimts sich.

Drache wird zum Würstenbraten mißbraucht.

Die Fantasy-Welle rollt weiter übers Land, ja die Welt, und das liegt natürlich an der pennenden Vernunft, und hoppsa, tummeln sich Ungeheuer (Nebenbei: ich find die meisten Politiker, Magnaten und Promis ect pp ff geben für mich um einiges beunruhigendere Echweltmonster ab. Im Vergleich zu z.B. Bohlen oder Söder erscheint mir ein Troll geradezu zivilisiert).

Phantastik ist beliebt, wegen ihrer »Trickkiste«, was sonst (elendiges Verführer-Genre. Fast erwarte ich, daß man von Venusfliegenfallen-Literatur spricht). So was Unlauteres aber auch. Tolle Kurzschlußfolgerung: Mystery ist was für Erwachsene, Fantasy was für Kinder. Daß dies vornehmlich auf der Initiative der Kulturindustrie beruht, die entsprechend auf’m Markt die Waren gewichtet und gezielt bestimmte Kundenherden umwirbt, darauf geht man besser nicht ein.

Aber: Phantastik kann eben dazu beitragen, sich geistig gegen derartige Programmierungsattacken der Konzernwelt und Zurechtknetpraktiken der Machteliten zu wehren; Phantastik ist eine Mukkibude für den oftmals zwar mit holden Gesängen beschworenen Möglichkeitssinn (siehe Hannah Arendt), aber wenn dann statt der (provinziellen) Tüdel-Phantastik eines Peter Handke oder Patrick Roth eben so ein auf Globalitäztsniveau herumphantasierender Micki-Maus-Fabulierer wie z.B. Dan Brown von den Massen bevorzugt wird, packt man erstmal die Eskapismus- und Verschwörungstheorie-Keule aus. Solange alle möglichen wichtigen Vorgänge der Wirtschaft, Politik und Interessensgruppen hinter verschlossenen Türen abgehen, finde ich, ist die Grundfolie der Paranoia gar nicht so unangebracht. Man darf sich halt nicht in den Wahnsinn treiben lassen (weder von irrlichternder McFantasy-Phantastik, noch von den handfesten Hirnverwuschelungen der radikalen Echtwelt-Phantasmen, die im Infowar als Splitterbomben eingesetzt werden.).

Werner fragt sich, warum Fantasy bei jungen Menschen gar so beliebt ist: selbstverfreilich weil sie »Wirklichkeitsflucht, Sehnsucht nach Weltabgewandtheit« bedient. Dass jeder Mensch ein natürliches Bedürfnis nach Weltensinnmach-Narrationen hat, und sich entsprechend was zusammenbasteln will, wird untern Teppich gekehrt. Nicht zwischen Franchise-Hype und Literatuur unterscheiden könnend, wird plötzlich von Werner die erfreuliche Nachricht angeführt, daß die edel-phantastische Buchreihe »Die Bibliothek von Babel« (Hrsg. von Jorge Luis Borges) von der Büchergilde Gutenberg neu aufgelegt wird, und Werner deutet, daß auch die Erwachsenen die Schnauze voll haben von sogenannten realistischen Fiktionen. Das wird dann »die Lust an Grenzüberschreitung« genannt. Dass beengende Konventionen, Vorurteile, der von Gestaltungsmächtigen ausgeübte gesellschaftliche Druck, das permanente Werbungsgewitter ständig in die Vorstellungsterrains des verwalteten individuums einfallen und munter herumkolonisieren, das nenne ich eine Invasion, eine generalstabsmäßige ständige Grenzüberschreitung. Freilich gehört auch (vor allem) die Franchise/Serien-Phantastik zu diesem einfallenden Mem-Truppen. Aber Phantastik ist meiner Ansicht deshalb so hipp, weil hier eben spielerisch und ohne absoluten Wahrheitsanspruch Sprungbretter für die Vorstellungskraft geboten werden.

Sehr schön dann aber z.T. ein zitierte Meldung des Medienwissenschaftlers Joachim Hörsch:

Wenn, wie Jochen Hörisch meint, »die Funktion von Literatur darin besteht, alternative Realitätsversionen vorzustellen«, spiegelt das gesteigerte Begehren nach fantastischen Stoffen den Wunsch, der Tyrannei des Faktischen zu entkommen. Diese Fluchtbewegung führt Hörisch auf den dokumentationswütigen Hyperrealismus mancher Medien zurück. Es sei zu »bedenken, dass der Status realistischer Literatur sich in dem Augenblick ändern muss, wo man in einem sehr naiven Sinn realistisch sein kann: Man hält ein Mikro hin, und alles, was ich jetzt an Unsinn sage, an Räuspern und Ähem und Hust, das wird jetzt registriert.«

Genau: diese Art des gepimpten prolligen Realismus bietet eben nur begrenzt aktraktive Angebote für den eigenen Innenwelt- und Personaprofilierungs-Baukasten (nicht alle Leut wollen ein Kontainer-Hobbit unter dem lidlosen Auge von Big Brother und Co sein). Was ist für eine friedliche (ruhiggestellte?) Gesellschaft wünschenswerter: daß junge Leute sich extremistischen Polit- und Ideologiekadern anschließen, oder als Elfen, Trolle und Zwerge oder Ritter, Barden und Prinzessinen verkleidet am Wochenende auf Fantasy- und Mittelalter-Cons rumtreiben? Gell, da erscheint »Wirklichkeitsflucht« auf einmal als etwas Nettes und Begrüßenswertes, oder?

Da finde ich, haben andere Medienphilosophen wie Norbert Bolz oder Rüdiger Safranski hierzulande schon um einiges klüger über das Phantastik-Phänomen spekuliert. Hier zum entsprechenden Remix »Lesende Weltwanderer« in meiner Molochronik.

Susan Sonntag hat kurz vor ihrem Tod noch eine Reihe Essays verfaßt, die nun auf englisch erscheinen. Der Guardian bot »Pay attention to the world« zum Anschmecken feil, und Sontag kommt darin um einiges plausibler auf den Punkt: dass jegliche Fiktion eben einen Weltenbau konstruiert und folgendes finde ich sehr inspirierend:

Serious fiction writers think about moral problems practically. They tell stories. They narrate. They evoke our common humanity in narratives with which we can identify, even though the lives may be remote from our own. They stimulate our imagination. The stories they tell enlarge and complicate – and, therefore, improve – our sympathies. They educate our capacity for moral judgment. {…}
{O}ne of the resources we have for helping us to make sense of our lives, and make choices, and propose and accept standards for ourselves, is our experience of singular authoritative voices, not our own, which make up that great body of work that educates the heart and the feelings and teaches us to be in the world, that embodies and defends the glories of language (that is, expands the basic instrument of consciousness): namely, literature.

Schnellübersetzung von Molo: Ernsthafte Autoren von Fiktionen denken auf praktische Art und Weise über moralische Proleme nach. Sie erzählen Geschichten. Sie schildern. Sie beschwöen unsere gemeinsame Menschlichkeit in Narrationen, mit denen wir uns identifizieren können, selbst wenn die geschilderten Leben mit den unsrigen wenig gemeinsam haben. Sie regen unsere Vorstellungskraft an. Die Geschichten, die sie erzählen erweitern und verkomplizieren — und verbessern damit — unsere Fähigkeiten zur Anteilnahme, zur Symphathie. Sie erziehen unser Vermögen moralische Urteile zu fällen. {…}
Die Erfahrung von singulären, maßgeblichen Stimmen, die nicht unsere eigenen sind, gehört zu den Mitteln, die uns dabei helfen unserem Leben Sinn zu verleihen, Entscheidungen zu treffen, Ziele zu finden und Normen für uns zu akzeptieren, was zusammengenommen die große Anstrengung ausmacht, das Herz und die Gefühle zu erziehen, und uns lehrt in der Welt zu sein, sowie die Herrlichkeit der Sprache verteidigt (sprich: das grundlegende Instrumentarium des Bewußtseins erweitert): gemeint ist die Literatur.

Hendrik Werner schreibt nicht sehr geschick über Fantasy und Phantastik.Auch in der Phantastik, ja sogar in der Genre-Fantasy/SF/Horror, lassen sich ›ernsthafte Autoren (und Autorinnen) von Fiktionen‹ finden, gar nicht mal wenige, wenn man ein Äuglein dafür hat. Und pssst, das einzugestehen und ganz selbstchverständlich zu akzeptieren, würde allzuviele sogenannte relevante Realismusprosa schlichtweg als fad und umstandshuberisch deklassieren. So halten also viele bezahlte Literatuuuur-Meinungsverbreiter weiterhin fest an der unschönen Praxis: wenn es richtig gute Literatur ist, kann es keine (Genre-)Fantasy (Horror/SF) sein. Wie lob und verehre ich da Autorinnen wie Susanna Clarke, die dem Rat einer angesehenen englischen Literaturdame nicht folgte: »Bezeichnen Sie ihren Roman bloß nicht als Fantasy, damit werten Sie ihre vorzügliche Arbeit ab«. — Ach was!?! Sind denn alle Schwarzen Sexbestien? Sind alle Deutschen Nazis? Alle Amis evangelikale Apokalyptiker? Man sieht: überträgt man die literarische Vorurteilsdenke auf gesellschaftliche Felder, entpuppt sich die ganze Altbackenheit in ihrer bescheuklappten Unverschämtheit.

Also lieber Herr Werner: in Sachen Fantasy zu berichten, das üben wir bitte noch, ja? Das kann man besser machen. Dennoch: einen flotten gedanken-an(und auf)regenden Artikel haben Sie da geliefert, und ich Danke für die Gelegenheit zum Mich-drann-Reiben. Ich les sowas gern, selbst wenn dabei reichlich unbeholfen und tendentiell ganz schön abfällig über Phantastik berichtet wird. Ich frage mich, ob es Sportfans stören würde, wenn man mit derartiger Regelmäßigkeit deren Gebaren, Umfeld und Steckenpferd abkanzeln würde. Aber nein: fast alle Zeitungen pflegen ihren ausführlichen Sportteil mit Begeisterung. Eine eigene feste Phantastik-Ecke aber kann man lange suchen im hiesigen Blätterwald (es gibt Ausnahmen).

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7 Kommentare

  1. Dan Brown » Dan Brown March 20, 2007 12:56 pm Says:

    […] .psd and .png failed to open. I went back to Max and opened the second-most-recent file. …Die vermeindliche Wirklichkeitsflucht (eine etwas polemische … … aber wenn dann statt der provinziellen Tüdel-Phantastik eines Peter Handkes oder Patrick […]

  2. uvor Says:

    Schnurriger Artikel Molo! Seit ETA Hoffmann heisst dieses Genre bei uns Romantik.. Vielleicht stören sich die Germanisten am Begriff Fantasy.
    Übrigens, Gebaren wird ohne h geschrieben, da bin ich mir sicher! 😉 (kleiner scherz)

  3. Ju Says:

    Danke. Auf den Punkt getroffen. Es gibt gute Fantasy, es gibt schlechte Fantasy. Und es gibt jede Menge ‚hoher‘ Literatur ganz ohne jegliche Phantasie, die nur deshalb so gut bewertet wird, weil sich da die Phantasielosigkeit des Autoren mit der der Rezipienten deckt.
    Und in einer Welt, in wir in jeder Nachrichtensendung an der mangelnden Menschlichkeit der Menschen verzweifeln, ist es doch schön, ein paar verlässliche Monster und Unholde zu haben, die auf so einfache Stimuli wie Silberkugeln und Weihwasser reagieren – und ein paar HeldInnen, die nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt sind und im ersten Kapitel ins Waschbecken kotzen, weil das so schön realistisch ist.

  4. molosovsky (Alexander Müller) Says:

    Ach Ju, DU kennst ja viel gute, literarische Fantasy. Ich reg mich schon gern auf, über solche platte Berichterstattung. Obwohl: für mich als Phantastik-Geek ists schon auch ärgerlich. Aber der allgemein alles verschlingende Leser in mir, hat Verständnis für die Überforderung, die das Phantasik-Besprechen eben für so Blätterwaldkempen darstellt.

  5. Dominik Says:

    Das sehe ich ähnlich. Es gibt übrigens noch ein anderes Blog zur Leipziger Buchmesse, da findet man auch etwas alternativere Berichterstattung. Die Adresse: http://buchmesse.blogg.de

  6. Literaturwelt. Das Blog. » Blog Archive » Büchergilde Gutenberg präsentiert die »Die Bibliothek von Babel« von Jorge Luis Borges Says:

    […] Ich konnte nicht umhin, den »Die Welt«-Autoren Henrik Werner mit meinem Literturwelt-Eintrag »Die vermeindliche Wirklichkeitsflucht« zu rügen, wenn er dieses mutige Unterfangen der Büchergilde gedankenschwach in einen Topf […]

  7. molosovsky Says:

    Wie jeder, der sich als sekularer Hobby-Prediger erwichtelt, mit dem Zeigefinger fuchtelnd auf Verbesserungswürdige zu deuten und herumzumosern, freut es mich inniglich, wenn ich Zeuge werde, wie sich dort, wohin ich empört, echauffiert, enttäuscht und grantelnt zeigte sich verbessert wurde.

    In meinem Hauptartikel hier mußte ich einfach Hendrik Werner dafür rügen, wie lapsig vereinheitsbreilichend er Rowling, Fäntäsy-Hype mit der edlen, ehrwürdigen und höchstlöblichen Antho-Reihe »Bibliothek von Babel« in einem SatzTopf zusammenrührt.

    Das hat Hendrik Werner nun wieder wett gemacht; er gab sich Mühe und schrieb einen schönen Jubelbeitrag (»Gespinste, Gespenster, Gegenwelten«) zur »Bibliothek von Babel«-Anthoreihe, wieder für »Die Welt«, und die schönsten Stellen, ach was, Erkenntnisse hier mal kurz zusammengestellt:

    Borges wusste, dass Literatur alle Verheißungen des Jenseits und alle Träume des Diesseits, jede Begehrlichkeit und jedes Fernweh schon im Hier und Jetzt einzulösen vermag. Denn für die Dauer der Lektüre sind die erdenschweren Gesetze der Realität aufgehoben.

    Zu Texten, die mit Mitteln der literarischen Fiktion Gegenwelten inszenieren, die nicht immer paradiesisch sein mögen, aber die tröstliche Vorstellung transportieren, dass es für Bibliophile zwischen Himmel und Erde weit mehr gibt als die bloße Schreckensherrschaft des Faktischen.

    Wobei Phantastik eben nicht nur dieser Fluchtbewegungen der Vorstellungskraft und des Empfindens zuarbeitet. Umgekehrt befördert ›Edel-Phantastik‹ wie sie die Borges’sche Antho-Reihe bietet eben auch den Blick hinter die Illusionen und Scharadenspiele, sensibilisiert für die Dialektik zwischen Täuschung und Ent-Täuschung. Nicht umsonst nannten Philosophen wie Alanus ab Insulis oder Al-Farabi und Moses Maimonides die Phantastik als »ein Prinzip der Politik«.

    Wahrer Prophet ist derjenige, der über eine hervorragende Phantasie verfügt und dadurch seine natürlich erreichte Weisheit auch dem ungebildeten Volk vermitteln kann. Die Phantasie ist ein Werkzeug, die Völker zu regieren und Prinzip der Politik.

    (Quelle: »Historisches Wörterbuch der Philosophie«, Band 7, S. 531)

    Werke der Phantastik sind oftmals zugleich Metatexte, lies: Literatur über Literatur.

    Wenn man sich umschaut in der theologischen Phantastik, dann begegnet man dem Gedankenbild von der Schöpfung als dem großen Buch Gottes, in welchem der Mensch liest. Wir alle sind Leser der Welt und mühen uns darum, Autoren über unser eigenes Leben zu sein. Durch die weltliche Aufklärung, dem Aufkommen der Moderne wurde diese Weltleserei freigegeben für alle.

    Einziger echter Fehler den Werner verbreitet:

    Längst sind diese Bände allenfalls noch verstreut und antiquarisch zu haben.

    Das stimmt nicht ganz. Richtig, die Erstauflage der 8oger (Weitbrecht) ist vergriffen; ebenso die Taschenbuch-Lizenzausgabe der 90ger bei Goldman. Einzeln finden sich Bände dieser beiden Ausgaben zuhauf z.B. bei zvab und anderen Gebrauchtbuchportalen. Aber man dort auch noch die kompletten Reihen erhalten, wenn auch zu etwas überzogenen Preisen. Dennoch: ich empfehle die Neuauflage bei Büchergilde Gutenberg. Schöner gehts einfach nimmer.

    Freut mich ungemein, Herr Werner, daß Sie meine tadelnden Töne entkräften, indem Sie sich nun als verständigerer Berichterstatter zur Phantastik zeigen. Weiter so!

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