Mittwoch, 25.03.2009 | 18:49 Uhr
Autor: Immo Sennewald
Was beim ersten Lesen erschüttert, ist die vollkommen bedenken- und gewissenlose Niedertracht der DDR-„Staatsorgane“. Es ist die Tatsache, dass familiäre Bindungen zwischen Geschwistern, zwischen Mutter und Kind nicht davor schützen, dass ein Bruder den Bruder, eine Mutter den Sohn an eine Maschine verkauft, an einen Apparat. Als ob ich das nicht gewusst, als ob ich nicht selbst ein Buch darüber geschrieben hätte.
Das selbst Erlebte schützt nicht vor der Begegnung mit der Ohnmacht im Erleben von Susanne Schädlich, so wenig wie es vor dem Schrecken schützt, dass solche Ohnmachtserfahrung allgegenwärtig ist in unserer Welt.
Susanne Schädlich legt mit „Immer wieder Dezember“ eine seltsame Familiengeschichte vor. Sie erzählt, was ihr als Zwölfjähriger widerfuhr, kurz bevor und nachdem sie mit ihren Eltern die DDR verlassen hatte. Dazu stellt sie als fortlaufenden Kommentar, was die Stasi in ihren Akten über die Familie im Westen niederschrieb – sie wusste fast alles. Der lange Arm der Stasi reichte nach Wewelsfleth und Hamburg, nach Westberlin, Budapest und Warschau. Von 1977 bis 1989 waren der Schriftsteller Hans-Joachim Schädlich und seine Familie zwar ausgebürgert, aber immer noch Zielobjekte, immer noch ein Posten in der Rechnung der Weltbeglücker, der nicht aufging und deshalb zersetzt werden musste. Ein charmanter, gebildeter Pfeifenraucher, Anhänger britischer Lebensart, Historiker an der Akademie der Wissenschaften machte es möglich: Karlheinz Schädlich, der ältere Bruder des Schriftstellers.
Was beim genaueren Lesen ins Auge fällt ist, dass brauchbare Anpasser wie Karlheinz nichts DäDäÄrr-Spezifisches sind, und dass ausgerechnet Hans Joachim Schädlich mit seinem Tallhover-Roman ihre verhängnisvolle Rolle in der deutschen Geschichte literarisch dingfest gemacht hat. Ja, die Bundesrepublik ist anders, ja, auch 20 Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung ist die Verostung noch nicht so weit fortgeschritten, dass wir uns ernsthaft auf „Stasi 2.0“ einrichten müssten.
Aber – und darum ist Susanne Schädlichs Buch so wichtig – die Bereitschaft zum Verniedlichen der DäDäÄrr ist nicht nur ein selbstverständlicher Impuls quotengesteuerter Medienidiotie. Der Charme der Kontrollen und Verbote als vermeintliche Konfliktlöser wächst. Es sind nicht die Clubs und Gesellschaften von Ex-Stasis, Ex-Grenztruppen, Ex-Was-Weiß-Ich-Für-Machtstrukturen, die Furcht einflößen, es ist die schwindende Bereitschaft, das demokratische Gemeinwesen als mühevolle aber lohnende Aufgabe anzunehmen.
Susanne Schädlichs Buch ist ein dringender Appell, die Politik nicht den Politikern, die Demokratie nicht den Parteien zu überlassen.
Über beides wird nämlich in den Familien entschieden.
Hier die nächste Lesung des Buches
Tags: DDR, Deutschland, Familiengeschichte, Literatur, Stasi, Verrat
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11.04.2009 um 16:01 Uhr
Das Buch hört sich jedenfalls sehr interessant an, vielen Dank für diesen Lesetipp! Eine Frage hätte ich allerdings noch: Was meinen Sie mit „Verostung“? Meine Erfahrung spricht eher dafür, dass die Menschen aus Ost und West auch 20 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung noch immer sehr wenig voneinander wissen.
13.04.2009 um 18:42 Uhr
Lesen Sie’s, es lohnt sich!. „Verostung“ meint eine anscheinend unaufhaltsame Ausbreitung systemischer Phänomene, die sich mit dem Begriff „organisierte Verantwortungslosigkeit“ bezeichnen lassen. Der Prozess wurde durch den Zerfall der östlichen Weltmächte bzw. durch die Konvergenz des Kommunismus chinesischen Typs zur Globalisierung beschleunigt. Wenn Sie`s interessiert: „Ist die Welt nicht mehr zu retten – der Fall Rudolf Bahro“ ( in SWR 2 „Wissen“ http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/archiv/-/id=660334/vv=print/pv=print/nid=660334/did=1982612/qszq5z/index.html) oder „Der menschliche Kosmos“ http://immediator.de/service/kosmos/kosmos.html#533108978714e7105).
16.09.2009 um 11:33 Uhr
[…] 25.März gab es einen Artikel zu Susanne Schädlichs “Immer wieder Dezember”. Die Rezension dazu (gestern in der SWR 2 “Buchkritik” ausgestrahlt) gibt es jetzt auch […]
16.09.2009 um 11:37 Uhr
[…] 25.März gab es in “blog.Literaturwelt” einen Artikel zu Susanne Schädlichs “Immer wieder Dezember”. Die Rezension dazu (gestern in der SWR 2 “Buchkritik” ausgestrahlt) gibt es jetzt auch […]
24.08.2010 um 12:28 Uhr
[…] Rezension zum Buch finden Sie hier. Eine Radiorezension und Gespräch mit Susanne Fröhlich zum Anhören finden Sie […]