Freitag, 13.02.2015 | 00:28 Uhr

Autor: rwmoos

Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen


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TraurTrop

3-518-27840-1
20. Auflage 2012

Übersetzt von Eva Moldenhauer

Rezensent: Reinhard W. Moosdorf

Die Gnade der Erkenntnis kann einen schon mal überkommen, wenn man eine Katze versteht. Doch dahin ist es ein langer Weg …
Man muss in der Zone gelebt haben, um sie zu begreifen. Auch gute Filme oder Bücher können schwerlich jenes Lebensgefühl ausdrücken, das mich mit vielen anderen Menschen der dortigen Subkultur vereinte. Doch ein hingeworfener Satz hier, eine aufhuschende Erinnerung dort – und schon erkennt man den verflossenen Bruder respektive die verflossene Schwester, welche, wie man einst selbst, in jener schwankenden und vielleicht auch ein wenig schwammigen Subkultur einher schwamm, die die Bereiche zwischen Künstlern, Kirchen und Kommunismusdebatten als Lebensraum für meinesgleichen einzuräumen schien.
Ein solcher Flecken ist die Erinnerung an ein Kiosk in Magdeburg, in dem „Traurige Tropen“ von Claude Lévi-Strauss als Reclambändchen angeboten wurde und zwar zum durchaus nennenswerten Preis von erinnerten 4,50 Ostmark. Der Kiosk hatte trotz bester Geschäftszeiten geschlossen und ich wartete auf die Straßenbahn. Drei- viermal sah ich das Büchlein an der selben Stelle – im Buchhandel war es längst vergriffen oder nur unter dem Ladentisch zu haben, was im Ostjargon ja hieß, das der Buchhändler die wenigen ausgelieferten Exemplare nur an gute Bekannte weiterreichte. Ich will nicht einmal ausschließen, dass jener Kiosk gelegentlich auch geöffnet hatte, aber entweder verhinderten die zügig zu erreichende Bahn oder das klamme Portemonnaie einen Kauf meinerseits; jedenfalls war das Büchlein, als dergleichen Schwierigkeiten später behoben waren, nicht mehr zu Stelle.
Warum ich es haben wollte? Nun, in meinem damaligen Themenkreis, bei dem es eine übergroße Rolle spielte, dass meine Frau als Farbige im weißen Ostdeutschland einen Stand hatte, der zwischen exotisch und diskriminiert pendelte, waren Ethnologie, Soziologie, Philosophie und Theologie Fixpunkte, zwischen denen sich eigenes Denken entwickelte – und bestimmten Hinweisen nach hatte sich Lévi-Strauss mit diesem seinen Buch in genau jenem Feld behaupten können.
Wie dem auch sei – ich konnte es nicht in Erfahrung bringen, weil es mir an der materiellen Grundlage, nämlich eben dem Buch, gebrach.
Zweiunddreißig Jahre und viele Themenkreise später, im Sommer 2011, in einer völlig anderen Gesellschaft, in der nahezu alles käuflich ist, Bücher ohnehin, aber inzwischen wie selbstverständlich auch deren Autoren, habe ich das Büchlein während eines Urlaubs gelesen. Unterwegs zwischen Njimwegen und Avignon, dann weiter über Saintes-Maries-de-la-Mer, Marseille, Monaco zur Ligurischen Küste, versuchte ich als einziger Erwachsener vier genervte und nervige Kinder von den Vorzügen eines unsteten Erlebnisurlaubs zu überzeugen und war abends vom Fahren, Besichtigen, Erkunden, Kochen, Zelt aufbauen, Streitereien schlichten etc. regelmäßig so fertig, dass ich nachts nicht schlafen konnte. Auf elektronisches Gerät hatte ich bewusst verzichtet und so verbrachte ich die Nächte mit dem Lesen von Büchern, von denen eines die Traurigen Tropen Lévi-Strauss‘ war.
Wie sich bald herausstellte, waren meine äußeren Bedingungen zum Verständnis des Büchleins nahezu optimal, weil sie mich in einen Zustand zwischen Zivilisation und Chaos versetzen, die die Spannbreite, die in dem Büchlein angerissen werden, ziemlich konkret ins reale Leben übersetzten. So gerieten mir die Studien des Autors zu einer Art Leitfaden, mit dem ich beschloss, meine Umwelt auszuloten.
Ein Büchlein, das faszinierend und enttäuschend zugleich ist.
Faszinierend, weil Lévi-Strauss ungeachtet aller Konventionen nicht einmal ansatzweise einen roten Faden verfolgt, sondern Reisebericht, soziologisch-ethnologische Untersuchung, philosophische Betrachtung bis hinab zum Gemeinplatz und Autobiografie derart vermischt, dass er im Kreuzfeuer des Erlebten und der erfahrenen Denkweisen geniale Gedankenblitze einstreut, die ihresgleichen suchen, aber auch sofort wieder von dicken Gewitterwolken aus nebulös fabuliertem Geschwabere eingehüllt werden.
Enttäuschend, weil ich von einem so hohen Namen viel exaktere Skizzen des Erforschten erwartet hätte, wobei man einräumen muss, dass solche Feldforschung, die den Namen Wissenschaft denn auch wirklich verdient, durchaus im Werk auftaucht. Diese im Ganzen doch recht umfangreichen Passagen, einschließlich der zugehörigen Interpretationsversuche, sind dann auch das, was zunächst am meisten haften bleibt. Ein Irrtum, wie sich später bei zweiter, gründlicherer Lektüre herausstellte.
So gerät das Werk zu einem interessanten Selbstversuch: Letztlich beschreibt Lévi-Strauss, warum er Ethnologe ist, was Ethnologie (er nennt es regelmäßig lieber Ethnografie) zu leisten vermag und wohin vergleichende Ethnologie führen könnte, nämlich dahin, „eine Harmonie zu finden, die weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft das Goldene Zeitalter sucht“.
Auf diese Suche werde ich ganz am Ende noch einmal zurückkommen.
Da der Autor aber beschlossen hat, seine Studien primär fragenderweise und bestenfalls sekundär analytisch sortierend zu betreiben, hat er den Vorteil viele Erkenntnisse gewinnen zu können, aber gleichzeitig den durch seine Methodik bedingten Nachteil, diese Erkenntnisse nicht in einem System vorstellen zu können.
Es ist mit bewusst, dass diese meine Lesart in krassem Gegensatz zu der gewöhnlichen Rezeption der „Traurigen Tropen“ steht, demnach dies geradezu die Programmschrift einer strukturalistischen Methode sei. Man liest das aus einzelnen interessanten Betrachtungen, nach denen Lévi-Strauss aus der Anordnung der Indianer-Dörfer und ihrer Tätowierungen auf ihr Weltbild schließt. Eigentlich war dies sogar wohl eher der Beitrag seiner damaligen Frau, Dina Dreyfus, die diese Expedition begleitete. Aber man überliest dann im gleichen Zug die Anfragen und Brüche, die der Autor an seine Methode bzw. die Frage des Erkenntnisgewinns gegenüber dem Fremden und dem Entfremdeten überhaupt aufwirft. Insofern möchte ich allen Lesern Mut machen, dieses Werk NICHT unter der vorgefassten Meinung irgendwelcher Ideologien zu goutieren, sondern sich selbst mit ihm auseinanderzusetzen. Sicher wird man da teilweise zu anderen Ergebnissen, anderen Wichtigkeiten als die hier aufgeführten kommen.
Es ist möglich, dass in diesem Werk zwei geniale Köpfe ihr Epos verwoben. Denkbar wäre z.B., dass die eigentlich strukturalistischen Gedanken von Dina Dreyfus stammten. Da aber gerade diese Gedanken (oder sollte ich sagen: Meme?) sich als erfolgreich erwiesen, sammelte Lévi-Strauss den Erfolg für sich ein und schwieg seine damalige Frau später tot, um diesen Erfolg nicht zu gefährden. Diese Rezension aber widmet sich eher den anderen Teilen: Dem erkenntnistheoretischen Skeptizismus, der unzweifelhaft aus Lévi-Strauss‘ Feder stammt, weil er mit ihm biografisch verwoben ist, und für den er bislang – leider – zumindest nicht in einem annähernd gleichen Maße geschätzt wird.
Man könnte den Zusammenhang zwischen Fremdheit und Entfremdung als sein großes Thema sehen, wenn nicht genau eine solche Einteilung wieder der Systematik frönte, die Lévi-Strauss ständig mit seinen Fragestellungen aufbricht.
Dem folgend seien hier einige seiner Glanzpunkte vorgestellt, wobei ich abschließend eine Weiterverwendung seiner Einsichten auf derzeit aktuelle Brennpunkte und Fragestellungen vorschlagen möchte, ohne dass dies als Antworten oder systematische Vorgehensweisen missgedeutet werden soll. Dazu werden hier nämlich schon viel zu viele der einzelnen Gedankenschritte Lévi-Strauss‘ ausgelassen.
Der Autor versucht, das Dilemma darzustellen, das sich bei der Begegnung zwischen den Kulturen der spanischen Siedler und der indianischen Ureinwohner auftat. Voller Bewunderung entdeckt er, dass bereits im 16. Jahrhundert ethnologisch arbeitende Kommissionen die Natur der 200 Rest-Haitianer untersuchten, um herauszufinden, ob es sich um wenigstens einigermaßen gleichwertige Menschen handelt, die vielleicht in die Lage gebracht werden könnten, sich wie spanische Bauern zu ernähren. Die Befragung der Weißen vor Ort war durchweg negativ und stellte die Einheimischen eher in eine Reihe mit Nutzvieh. Als Beweis ihrer niedrigen Gesinnung wurde u.a. erwähnt, dass sich diese Indianer weigerten, ihre Kameraden zu verstoßen, denen die Spanier zur Strafe für irgendwelche Vergehen die Ohren abgeschnitten hatten!
Andererseits hatten die Indianer auf der Nachbarinsel Puerto Rico eine „Body-Farm“ eingerichtet: Sie fingen und ertränkten Weiße, um herauszufinden, ob deren Körper anschließend verwesten oder nicht.
Während also die Spanier sich eher einer soziologischen Herangehensweise bedienten, bevorzugten die Puerto Ricaner eine naturwissenschaftliche Herangehensweise. Ob das Letzte menschenwürdiger war, wie Lévi-Strauss bemerkt, halte ich für anfragbar. Immerhin aber kam diese Methode zu einem richtigen Ergebnis: Weiße sind keine Götter.
Lévi-Strauss‘ an dieser Stelle noch unausgesprochene Fragen lauten: Sind solche Missverständnisse vermeidbar? Gibt es Brücken über dieses meilenweite Unverstehen der anderen Seite?
An anderer Stelle registriert Lévi-Strauss Stilbrüche bei den alten Reisebeschreibungen der Europäer, die uns heute merkwürdig vorkommen: Columbus, Rabelais und andere hatten oft viel Phantasie bei ihren Reisebeschreibungen. Sie beschrieben Seit‘ an Seite mit genauen naturwissenschaftlichen Berichten plötzlich in der gleichen Ernsthaftigkeit Sirenen, unaussprechliche Hitze, Baumwolle als Schaf-Frucht-Tragender Baum etc. Durch mangelnde Beobachtung allein wäre dies nach Lévi-Strauss nicht zu erklären. Er postuliert statt dessen: Den europäischen Menschen des 16. Jh gebrach es an einem Gefühl für den Stil des Universums (ähnlich einem Hinterwäldler, der sich über Gemälde äußern soll).
Zur Hochform läuft der Autor auf, wenn er die Geschichte von Guanabara beschreibt. An diesem brasilianischen Küstenort spinnen die Außenstellen der europäischen Religionswirren, angespült an das Gestade des Fremden und somit noch verquickt mit den Interessen der einheimischen Restbevölkerung, andererseits den Bindungen, die in der Heimat solch abstruse Streitereien, wie sie die Reformation hervorbrachte, und die dort irgendwie sinnvoll erscheinen konnten, völlig entfremdet, ihre Fäden dermaßen turbulent ineinander, dass es einem schier schwindelig wird, zumal der heutige Leser doch in der Regel geneigt ist, sich zu der jeweils betrachteten Angelegenheit eine ethische Meinung zu bilden. Genau mit solchen Satz-Strudeln zieht auch Lévi-Strauss seine Leser in die darin beschriebenen Wirren gern mit hinein.
Schließlich bildet er eine Zwischen-Bilanz:
„Im Allgemeinen stellt man sich Reisen als eine Ortsveränderung vor. Das ist zu wenig. Eine Reise vollzieht sich sowohl im Raum wie in der Zeit und in der sozialen Hierarchie. Jeder Eindruck lässt sich nur in Bezug auf diese drei Achsen definieren, und da allein schon der Raum drei Dimensionen hat, so wären mindestens fünf erforderlich, um sich vom Reisen eine adäquate Vorstellung zu machen.“
Als ob damit das Erkennen des Fremden nicht schon kompliziert genug wäre, geht Lévi-Strauss im Anschluss auf die Methode des Denkens an sich ein und kritisiert dabei en passant die cartesische Vorgehensweise. Ausgehend von der Beobachtung, dass moderner Städtebau sich, was das Wohlstandsgefälle innerhalb eines städtischen Gebietes anlangt, offenbar an Ost-West- und Nord-Süd-Richtungen austariert, dies in seltsamer Korrelation mit archaischen und abergläubischen Bräuchen nicht nur unserer eigenen Vorfahren sondern auch der Dorfanlagen von Indianern des Amazonasgebietes steht, kommt Lévi-Strauss zu folgendem Ergebnis:
Uns sollte „… das Werk des Malers, des Dichters oder des Musikers, die Mythen und Symbole des Wilden wo nicht als eine höhere Form der Erkenntnis, so doch als die fundamentalste, die einzig wirklich gemeinsame erscheinen, eine Form, bei der das wissenschaftliche Denken nur die schärfste Spitze bildet: zwar durchdringender, weil am Stein der Tatsachen geschliffen, jedoch zum Preis eines Substanzverlusts; und deren Wirksamkeit von ihrer Fähigkeit abhängt, tief genug einzudringen, damit die gesamte Masse des Werkzeugs der Spitze folgt.“
Dieser Einschätzung auf den Fuß folgt ein für Lévi-Strauss‘ Verhältnisse nahezu rosarot optimistischer Ausblick:
„Der Soziologe kann bei der Erarbeitung eines umfassenden und konkreten Humanismus mitwirken. denn die großen Manifestationen des sozialen Lebens teilen mit dem Kunstwerk den Umstand, dass sie auf der Ebene des unbewussten Lebens entstehen, im ersten Fall, weil sie kollektiv sind, und im zweiten, obwohl sie individuell sind; aber der Unterschied bleibt sekundär, er ist sogar nur scheinbar, da die einen durch das Publikum und die andere für das Publikum geschaffen werden und dieses Publikum beiden ihren gemeinsamen Nenner verleiht und die Bedingungen festlegt unter denen sie entstehen.“
Mit solchem Werkzeug gerüstet geht der Autor das nächste Thema der Fremdheit an: Den Tod, bzw. das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten. Warum und wie er darauf kommt, hier zwei auseinanderliegende Pole zu beschreiben: Einerseits die Toten als Verhandlungspartner der Lebenden und andererseits die Toten als Spekulationsobjekt der Lebenden, mag man dem Buch selbst entnehmen. Ebenso, welche Übergänge und Parallel-Stränge er zwischen beiden Richtungen sieht. Man nehme noch zur Kenntnis, dass er noch einen dritten, im westlichen Sinn „moderneren“ Weg sieht: den der Gleichgültigkeit den Toten gegenüber, der mit wiedererwachendem archaischen Grauen bezahlt wird (wobei man unwillkürlich an die Flut moderner Vampir- Mumien-, Untoten- und Zombie-Erzählungen denkt). Erhellend aber das Fazit zu all diesen Betrachtungen:
„… die Vorstellung, die sich eine Gesellschaft von den Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten macht, [reduziert] sich auf das Bemühen […], die realen Beziehungen, die zwischen den Lebenden bestehen, auf der Ebene des religiösen Denkens zu verbergen, zu beschönigen oder zu rechtfertigen.“
Man kann alles bisher Betrachtete als eine Art Vorrede sehen: Die Ausrüstung des Lesers mit dem notwendigsten Werkzeug zum Verständnis der Beobachtungen, die Lévi-Strauss im Folgenden aus seinen Feldstudien in den Wäldern des Amazonas wiedergibt. Vielleicht sind diese Beobachtungen der Kern des Buches. Vielleicht verlieren sie sich aber auch unter der erdrückenden Anklage des eigenen Unvermögens zum Verständnis des Fremden, dass in dieser Vorrede so übermächtig ausgebreitet wird.
Und noch etwas kommt hinzu: In einer Art soziologischer Aufnahme der Heisenbergschen Unschärferelation vergleicht L.-S. seine Arbeit mit einem Drama, bei dem es darum geht, in die Dinge einzutauchen, ohne sie zu verändern, damit diese aber doch zu verändern, weil man eintaucht und schließlich das Wirrwarr zwischen ethischer Entscheidung und gewissenhafter Beobachtung unentschieden zu lassen.
So sieht der Ethnologe die Gesellschaften, die er zu beschreiben gekommen war, bereits in Auflösung begriffen und sich und seinen Besuch als Teil dieser Prozesse. Indianer geben ihre Werte, ihre Tradition angesichts der Werteordnung, mit der die technisch überlegenen Europäer bzw. deren Nachfahren sie überschwemmen als nichtig an und verlassen sie. So „berichtet die ganze Geschichte der Kolonialisierung, sowohl in Südamerika wie anderswo, von solchen radikalen Verzichten auf traditionelle Werte, von der Auflösung einer Lebensweise in dem Augenblick, da der Verlust gewisser Elemente die sofortige Verachtung für alle anderen zur Folge hatte.“
Zunehmend beginnen nun pessimistische Züge, durch die Unmöglichkeit des Erkennens des Fremden bedingt, die Aussagen im Buch zu bestimmen: „Das soziale Leben besteht darin, das zu zerstören, was ihm Würze verleiht.“
Und dann wieder die vielleicht spannendste Frage in dieser heisenbergsche Unschärfe des angefragten Ethno- und Soziologen:
„Wie verhält sich der Ethnograf gegenüber Übeln, gegenüber denen in der betreffenden Gesellschaft zuweilen selbst protestiert wird? Warum zu Hause Missstände bekämpfen, die man in der Fremde toleriert bzw. gar verteidigt?
Ist der Ethnograf kritisch zu Hause, konformistisch bei den Völkern seiner Untersuchung?“
Und überhaupt, was Toleranz anlangt: Toleranz rühmt sich selbst und ist doch intolerant – schon weil sie meint, als einzige tolerant zu sein.
In Folge Rousseaus wird nicht der Naturzustand des Neolithikums verherrlicht (so wird Rousseau oft missverstanden), sondern zwischen ausgeglichener Gruppenharmonie und egozentrischem Fortschrittsglauben eine Harmonie zu finden, die weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft das Goldene Zeitalter sucht – dazu durch Vergleiche ohne eine Wertung, die der eigenen oder einer fremden Gesellschaft die größte Punktzahl zubilligt – das ist nach Lévi-Strauss Aufgabe der Ethnografie.
Es wäre so schön, wenn das Buch hier zu Ende wäre. Doch im Zuge der sich noch anschließenden Religionskritik wirf Lévi-Strauss scheinbar alle seine bis hierher ausgefeilten erkenntnistheoretischen Vorbehalte und Fragestellungen zur Seite und hat gegenüber dem Islam, den er zumindest zu diesem Zeitpunkt lediglich durch eine Reise 1949 nach Ostpakistan kannte, eine derart fest ablehnende Haltung, wie sie zwar Wasser auf den Mühlen moderner Islam-Kritiker sein mag, aber dem vielschichtigen Wesen dieser Religion doch nicht nahe kommen kann.
Auf die modernen „Gotteskrieger“ mögen die Mehrzahl seiner Charakteristika zutreffen. Und wenn man in Claude Lévi-Strauss in erster Linie den Strukturalisten sehen möchte, wird man für eine Korrektur dieser Sichtweise kaum empfänglich sein. Wendet man aber die erkenntniskritischen Theoreme, die aus dem bisherigen Werk hervorgehen auf seine eigenen Aussagen zum Islam an, wird dieser Teil löchrig bis er zusammenfällt.
Wenn heute junge Leute meinen, sie könnten sich den Islam im Youtube-Format reinziehen und dann stechen und hauen was immer ihr Ehrbegriff hergibt, so ist das eher ein Produkt der Kultur-Vermischungen zwischen Osten und Westen, zwischen Islam und Kapitalismus, zwischen Bigotterie aller Religionen und ihrer Schattierungen und Schatten als der islamischen Traditionslinien selbst.
Ein Lévi-Strauss hat (als jüdischer Franzose) das Format gehabt, solches zu erkennen und vorauszusehen. Warum er darauf verzichtete und statt dessen billige Vorgaben für jedweden Islam-Verächter lieferte, mag vielleicht eher den politischen Verhältnissen Anfang der 50er Jahre, als der Nahostkonflikt eskalierte, geschuldet sein als seinen ethnologischen Kapazitäten.
Versöhnlicher klingt da einer seiner letzten Sätze (es ist – daran muss man sich bei dem Autor gewöhnen – wirklich nur ein einziger Satz):
„Wenn der Regenbogen der menschlichen Kulturen endlich im Abgrund unserer Werte versunken sein wird, dann wird – solange wir bestehen und solange es eine Welt geben wird – jener feine Bogen bleiben, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet, und uns den Weg zeigen, der aus der Sklaverei heraus führen wird, und dessen Betrachtung dem Menschen, auch wenn er ihn nicht einschlägt, die einzige Gnade verschafft, der er würdig zu werden vermag: nämlich den Marsch zu unterbrechen, den Impuls zu zügeln, der ihn dazu drängt, die klaffenden Risse in der Mauer der Notwendigkeit einen nach dem anderen zuzustopfen und damit sein Werk in demselben Augenblick zu vollenden, da er sein Gefängnis zuschließt; jene Gnade, nach der jede Gesellschaft begehrt, wie immer ihre religiösen Vorstellungen, ihr politisches System und ihr kulturelles Niveau beschaffen sein mögen; jene Gnade, in die sie ihre Muse, ihr Vergnügen, ihre Ruhe und ihre Freiheit setzt; jene lebenswichtige Chance, sich zu entspannen, loszulösen, das heißt die Chance, die darin besteht – lebt wohl, Wilde! lebt wohl, Reisen! – , in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist, als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, die weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen -, den ein unwillkürliches Verständnis zuweilen gestattet mit einer Katze.“

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