Montag, 23.07.2007 | 17:09 Uhr

Autor: molosovsky

Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films«, oder: Über plausiblen Luftschloßbau.

Zur Einstimmung: Was ist eigentlich so besonders an der Phantastik-Sparte Science Fiction? Handelt es sich dabei nicht schlicht um eines jener Genres, in denen man noch in aller naiven Ruhe Cowboy und Indianer spielen darf, nur halt mit fesch ausgerüsteten Space Rangern und schleimig-befremdlichen Außerirdischen? Auch, ja, schon, aber zieht Euch mal folgenden Abschnitt aus »Girlfriend in a Coma« (1998) Douglas Coupland rein. Da wird knapp und virulent zur Sprache gebracht, welche roten Fäden das Grundgewebe der SF bilden. (S. 269 der TB-Ausgabe von Flamingo; Übersetzung von Molo):

Ask whatever challenges dead and thoughtless beliefs. Ask: When did we become human being and stop being whatever is was we were before this? Ask: What was the specific change that made us human? Ask: Why do people not particularily care about their ancestors more than three generations back? Ask: Why are we unable to think of any real futury beyond, say, a hundered years from now? Ask: How can we begin to think of the future as something enormous before us that also includes us? Ask: Having become human, what is it that we are now doing or creating that will transform us into whatever it is that we are slated to next become? {…} What is destiny? Is there a difference between personal destiny and collective destiny? {…} Is Destiny artificial? Is it unique to Man? Where did Destiny come from?

Was immer toten und gedankenlosen Glauben herausfordert, das frage. Frage: Wann wurden wir zu menschlichen Wesen und hörten aus zu sein, was immer wir zuvor waren? Frage: Welcher Wandel war es genau, der uns zu Menschen machte? Frage: Warum haben Menschen keine besondere Verbundenheit mit ihren Vorfahren, die weiter als drei Generation zurückreichen? Frage: Warum sind wir unfähig uns irgendeine echte Zukunft jenseits von, sagen wir, einhundert Jahren vorzustellen? Frage: Wie können wir damit anfangen, uns die Zukunft als etwas riesiges das vor uns liegt und das uns beinhaltet vorzustellen? Frage: Was von dem das wir, nachdem wir zu Menschen geworden sind, nun tun oder erschaffen, wird uns umwandeln, was immer vorgesehen ist, in das, was wir als nächstes werden? {…} Was ist Schicksal? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Schicksal eines Einzelnen und dem Schicksal einer Gruppe? {…} Ist Schicksal etwas künstliches? Ist es etwas nur dem Menschen eigenes? Woher kommt Schicksal?

Weil die erzählten Vorstellungen von der Zukunft immer auch ein Jounglierspiel mit Aufputsch- und Beruhigungsreizen zwischen Hoffnungs-Versprechen und ›Teufel an die Wand‹-Malerei sind, gehört SF (und Phantastik allgemein) zur fordersten Front im Infowar um die Imagination der Massen. Kolonisierungsgerangel um die Konsumenten-Hirne nennt sich das dann.

Da ist es für mich eine außergewöhnliche Freude eine Sachbuchneuerscheinung vorzustellen, bei der ich mit Lob kaum übertreiben kann. »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films« von Simon Spiegel ist nicht das x-te Durchhechel-Lexikon, sondern bietet einen im besten Sinne abwägenden und klärenden Rundgang durch Geschiche und Eigenheiten des SF-Films, und liefert dabei ganz nebenbei so manch erhellende Einsicht zu Genre- und Verfahrens-Problemen der phantastischen Disziplinen.

Spiegel spricht dabei offen von der Herausforderung sich als ›Film-Fan‹ film- und medienwissenschaftlich objektiv mit seinem geliebten Genre auseinanderzusetzten. Doch er hat diese Schwierigkeit gemeistert, denn es bleibt immer kenntlich, wo Spiegel mit geisteswissenschaftlicher Distanz über den Gegenstand referiert, und wo er sparsam seinen persönlichen Geschmack offenbart. Erfrischend persönlich, und einnehmend sympathisch sind schon Widmung und Motto: In der Widmung kommt die Tragik vieler männlicher SF-Begeisterten zur Sprache, daß SF Frauen überwiegend kalt läßt. Und statt einem klugen oder coolen Spruch, gibts einen (Tusch!) Gary Larson-Witz als Motto. Perfekt.

Das Buch ist zweigeteilt: die ersten 120 Seiten bieten eine (Schnell-)Übersicht der SF-Forschungsgeschichte, auf die Umzirkelungen der Definitionsbemühungen, und der (auch literatur-)geschichtlichen Entwicklung sowie der philosophisch-gesellschaftlichen Aspekte des SF-Genres folgen.

Für mich als Vertreter einer maximalphantastischen Genre-Sicht ist die Dilemmaschwemme des ersten Teils so vergnüglich zu lesen wie ein Intrigantenstadel, sozusagen beste Diskurs-Seifenoper, vor allem, weil ich Simon Spiegel die meiste Zeit schmunzelnd zustimmen kann. So ist die SF ein dauerhaft populäres Genre, wird zugleich aber von den vermeindlichen Kulturfuzzis (wenn überhaupt) überwiegend scheel beäugt. Macher und Leser der SF stehen in innigeren Austausch, als das in ›relevanteren‹ und ›wertvolleren‹ Fiktionsgefilden üblich ist. Nicht selten waren SF-Macher erstmal selbst Fans, und da die etablierten Akademiker nur langsam in die Puschen kamen, haben vor allem zu Beginn der SF-Kernepoche (das sogenannte ›Golden Age‹, etwa Ende der Dreissigerjahre bis zu den Fünfzigern des letzten Jhd.) die Fans selbst die Forschung erledigt. Spiegel erteilt dabei den oftmals peinlichen Adelungsabsichten von SF-Liebhabern, aber auch den auf idologiekritischen Vernageltheiten fußenden Schlechtreden von SF eine klare Absage. Vielmehr geht es dem Autor darum, genauer darauf zu achten, wie SF-Filme als Prozesse funktionieren, und welche Konstruktionsleistungen das Publikum anstellen muß, um SF-Filme verstehen und genießen zu können.

BOCKSPRUNG ÜBER TODOROV HINWEG
In seiner Übersicht zu den Definitionsanstengungen begeistert mich Simon Spiegel mit seiner Art, wie er die im deutschprachigen unseelig einflußreiche Arbeit »Einführung in die fantastische Literatur« von Tzvetan Todorov als Leiter nutzt, die man getrost vergessen kann, sobald mit mit ihrer Hilfe fruchtbarere Aussichtsplattformen auf das Phantastikgenre erklommen hat. Warum hack ich so polemisch auf Todorov rum? Na weil sein Genre-Ansatz ein systematischer ist (es gibt auch normative, narratologische, historische, wirtschaftliche und rezeptionsorientierte), mit dem Genres anhand (S. 24) …

»›objektiver‹«, textueller, formal-semnatischer Merkmale bestimmt und voneinander abgegrenzt {werden}.

Todorov ist überhaupt nicht daran gelegen zu untersuchen, wie Phantastik in freier Wildbahn daherkommt, sondern es geht ihm um einen Idealtypus, nämlich: wenn der Leser bei einem Werk nicht klar entscheiden kann, wie die Wirklichkeitsverfassung geartet ist. Je nachdem, wie ein unerklärliches, übernatürliches Ereignis in einer ›realistischen‹ Fiktion aufgelöst wird (realitätskonform oder nicht), unterscheidet Todorov dann zwischen:

  • Reiner Phantastik: Übernatürliches wird weder als Lug und Trug rational aufgelößt, noch als wirklich Übernatürlich bestätigt. Der Leser bleibt am Ende zweifelnd zurück (mein Beispiel: »Total Recall«);
  • Phantastisch-Wunderbarem: Übernatürliche Dinge werden am Ende als genau das, Übernatürlich, erklärt. (mein Beispiel: »The Sixth Sense«);
  • Phantastisch-Unheimlichen: Was zuerst wie eine übernatürliche Unmöglichkeit scheint, wird rational erklärt (mein Beispiel: »Pakt der Wölfe«);
  • Unvermischt Wunderbares: Der Weltenbau ist unverhohlen von übernatürlichen Dingen geprägt (mein Beispiel: »Harry Potter«);
  • Unvermischt Unheimliches: Viele als realistisch verortete Krimis bieten Spannung, indem eine Tat präsentiert wird, die sich augenscheinlich nur mittels ›Magie‹ vollbringen ließ. Exemplarisch z.B. das Motiv des Ermoderten im von innen verschlossenen Zimmer, bekannt durch Kriminalerzählungen von z.B. Agatha Christie und Arthur Conan Doyle.

Diese systematische Einteilerei steht und fällt mit dem Gegensatz zwischen ›realistisch‹ (im Sinne von ›wirklichkeitskonform, was der Fall ist‹) und ›unrealistisch‹ (im Sinne von ›Hirngespinst‹ und ›Was nicht der Fall sein kann‹, z.B. eierlegende Wollmilchschweine). Und was Autoren und Leser, sprich: Menschen überhaupt für realistisch und unrealistisch nehmen, hängt nun mal sehr von der jeweiligen Sicht auf Welt und Leben ab. Zudem ist Todorov herzlich Wurscht, ob die in einer Geschichte gegebene (oder nicht gegebene) Aufklärung lediglich eine formale Konvention ist oder nicht (Ätsch, war alles nur geträumt). Als Begriffssteigeisen für die ersten Dutzend Höhenmeter taugen Todorovs fünf Begriffe durchaus, alle anderen Wörter seiner »Einführung…« kann man jedoch getrost dem Vergessen anheim fallen lassen.

Spiegel kommt zur nützlichen Einsicht, daß Phantastik weniger ein fixes Genre ist, daß sich mittels inhaltlicher Merkmale bestimmen läßt, sondern vielmehr ein Modus, eine Art und Weise der Vermittlung von Fiktionen ist, und Spiegels Versuch einer Definition trägt dem mit gebotener Umsicht Rechnung, wenn er schreibt (S. 41):

Der phantastische Modus definiert sich duch die Dominanz eines phantastischen Elements. Ein phantastisches Element liegt dann vor, wenn ein unaufgelöstes, durch einen Realitätskompatibilitäts-Klassifikator als solches markiertes, nicht-realitätskompatibles Ereignis oder Phänomen in einem klassisch erzählten Film oder Text auftritt, der sonst keinen Hinweis auf eine ›nicht-wörtliche‹ oder ›poetische‹ Leseweise gibt.

Dabei sind die Übergänge und Heftigkeiten fließend und es ist durchaus keine endgültig objetive Sache, ob man als Leser ein Werk eher dem Gebiet der reinen Phantastik, des Unheimlichen oder des Wunderbaren zuordnet. Wer z.B. als überzeugter Gläubiger von der Existenz von Engeln, Dämonen und Magie überzeugt ist, wird andere Grenzen zwischen Phantastik, Unheimlichem und Wunderbarem ziehen, als ein skeptischer Naturalist.

GESCHICHTLICHES & PHILOSOPHISCHES
Im historischen Teil bietet Spiegel die sinnvolle Betrachtungsschwerpunkt-Unterscheidung zwischen der Entwicklung einzelner SF-typischer Motive, der Entstehung SF-typischer Vermittlungsmethoden und dem Auftreten der SF als eigenständiger Marktsparte an. Typische SF-Motive finden sich ja zuhauf schon in Werken, die lange vor dem Aufkommen des Begriffs SF entstanden sind. Als Mutter der modernen Phanatstik wird deshalb auch korrekterweise die Gothic Novel genannt (nur in etwa dem deutschen Begriff ›Schauerroman‹ entsprechend). Ausgangspunkt sind Reaktionen von Autoren des späten 18./frühen 19. Jhd auf die Umwälzungen der im Aufstieg befindlichen Moderne, der erblühenden Wissenschaften und der Industriellen Revolution. Die Widersprüche zwischen alten und neuen Wegen der Weltbildgewinnung bilden das Spannungsfeld, auf dem bis heute die SF wie auf einem Trampolin seine Fabulationssprünge leistet. Spiegel führt das anhand von Horace Walpoles Ambition seinen Roman »Das Schloss Otranto« (1764) betreffend vor. Bis heute aber ragt Mary Shellys Roman »Frankenstein – Der moderne Promeutheus« (1818) aus dem Feld der Gothic Novels hervor, denn hier wird eindrücklich Heil und Unheil der menschlichen Ambition behandelt, sich als Schöpfer und Macher von naturgegebenen Grenzen zu befreien, und typisch SF ist bei diesem Roman eben, daß ausdrücklich Medizin und Wissenschaft (siehe frühe Forschung zur Elektrizität) als Glaubwürdigkeitsstützen für die Schilderung widernatürlicher Machenschaften und unnatürlicherVorfälle herangezogen werden.

Als zwei weitere bis heute prägende SF-Strömungen läßt Spiegel dann den französischen Kintop-Pionier George Méliès, und den amerkanischen Verleger Hugo Gernsback auftreten. Bei Méliès ist klar zu sehen, wie wunderbare Effekte erstmal für sich stehen, nur lose zu Handlungen verknüpft werden und seine Filme mehr mit marktschreierischem Tingeltangel-Spektakel als z.B. mit erzählendem Theater gemein habe. Gernsback ist ein Paradebeispiel für die Ambition, vergnüglich-unterhaltene ›romances‹ mit wissenschaftlichen Fakten und prophetischen Visionen (sic!) zu vermengen (Das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal!!! Soviel steht auch fest: Bescheidenheit ist selten der SF größte Zier … To infinity and beyond!).

Im philosphischen Teil zeigt Spiegel dann, daß moderne Phantastik sozusagen eine Verweltlichung religiöser Sprech- und Weltdeutungspraktiken ist. Die Rede von der Zukunft war bis zum Aufbruch der Moderne religiösen Darstellungen vorbehalten (›Himmlisches‹ oder ›Neues Jerusalem‹, siehe z.B. das Perrylied »Jerusalem«, mit dem London gemeint ist) und unterlag heilgeschichtlichen Imperativen. SF (und andere Genre-Phantastik) kommt dagegen als Kunst-Mythos von allen für alle daher, genauer: als Neu-Aufbereitung und Wiederverwurschtung von althergebrachten Mythen, oder wie Spiegel knapp ausdeutet (S. 103):

In der oft beschworenen nüchternen Wissenschaftlichkeit der SF steckt nämlich auch der ganz und gar irrationale Wunsch nach Erlösung durch den technischen Fortschritt: Die Geschichte dieses Fortschritts ist für die SF gernbackscher Prägung eine Heilsgeschichte.

Das Spektrum des Geschichtenerzählens über die Zukunft und den technischen Fortschritt kennt nun freilich mittlerweile nicht nur die diese Propaganda- und Verführungsfabulas der Gewinner, auch wenn diese immer noch prägender sind (und sich besser verkaufen lassen) als pessimistische und kritische SF-Weltenbauten (was natürlich darauf ankommt, was ich hier genau mit ›pessimistisch‹ und was mit ›Verführungsfabulas der Gewinner‹ meine. Dazu nur soviel: die Bugs sind auch nur Menschen! Don’t join the Space Leathernecks.)
Klärend arbeitet Spiegel heraus, daß SF ein Modus ist, in dem Zukunfts-Ängste und -Hoffnungen dargestellt und verhandelt werden (S. 111):

SF ist also weniger der Mythos der Moderne, sondern der Modus, in dem sich moderne Mythen vorzugsweise manifestieren und im Film zur Sichtbarkeit gelangen.

Die erste Hälfte endet damit, indem Simon Spiegel seinen Lesern Einblick gewährt in den von vielen Köchen umgerührten Hexenkessel der flottierenden neu-religiösen und neu-mythischen Haltungen des SF-Fandoms. Das ist eine nette Gelegenheit für einen Fußnoten-Gastauftritt des Wissenschaftsphilosophen (und Bright) Daniel C. Dennett, der in seinem Buch »Breaking the Spell – Religion as a Natural Phenonemon« schreibt (S. 392, Fn 5. Übersetzung von Molo):

May the Force Be With You! Is Luke Skywalker religious? Think how differently we would react to this incantation if the Force were presented by Geroge Lucas as satanic. The recent popularity of cienmatic sagas with fictional religions — The Lord of the Rings and The Matrix offer two other examples — is an interesting phenomenon in its own right. It is hard to imagine such delicate topics being tolerated in earlier times. Our growing self-consciousness about religion and religions is a good thing I think, for all its excess. Like science fiction generally, it can open our eyes to other possibilities, and put the actual world in better perspective.

Möge die Macht mit Dir sein! Ist Luke Skywalker religiös? Man stelle sich vor, wie anders wir auf diese Beschwörung/Segen reagieren würden, wenn George Lucas die Macht als eine satanische Sache darstellen würde. Die jüngste Popularität von filmischen Sagas mit fiktionalen Religionen — »Der Herr der Ringe« und »The Matrix« bieten zwei Beispiele — ist ein interessantes Phänomen {in its own right}. Schwer vorzustellen, daß man in vergangenen Epochen solche heiklen Angelegenheiten toleriert hätte. Unser wachsendes Selbstbewußtsein über Religionen und bezüglich religiösen Angelegenheiten ist, wie ich denke, eine gute Sache, trotz aller Exzesse {gemeint: Übertreibungen}. Es kann, wie im allgemeinen auch die Science Fiction, unsere Augen für alternative/andere Möglichkeiten öffnen, und somit die Perspektive auf die momentane Welt verbessern.

Um eine Unterscheidung von Dennett aufzugreifen, bietet SF wie alle moderne Genre-Phantastik spirituelle Erlebnisse an, ohne daß man gleich in religiöse Ernsthaftigkeit reinsteigern muß. Es ist dieser der SF innewohnende transzendeniere Drive, der wohl für viele Fans so attraktiv ist, und der viele SF-Fans mit einem gewissen Elitenbewußtsein erfüllt. Spiegel scheut sich dabei nicht, zu erwähnen, daß im SF-Fandom deshalb heikle, fließende Übergänge zwischen wissenschaftlicher Spekulation, esoterischer Grenzwisschenschaft (ich selbst nenne das grad heraus ›Aberglauben‹) und Verschwörungstheorien zu beoabachen sind. Aber Spiegel macht daraus keine Häme oder Denunziation des SF-Fandoms und rückt die SF auch nicht gleich in die Depperlecke. Diese mythisch-spirituelle Macht der SF bietet, meiner Ansicht nach, erfeuliche Handhabe zur Befreiung vom instrumentalisierenden Apparate- und Insitutionenen-Weltbild; aber ich stimme Simon Spiegel zu, wenn er auf die sich aus dem gleichen Quell nährenden, beunruhigenden Monsterentwicklungen wie Scientology und Aum-Sekte verweist. Man denke auch an die quasi-religiöse Erregtheit von unheilbringenden Utopie-Eroberungsunternehmung, die z.B. als fundamentalistische Kommunismus-, Nationalismus- und Kapitalismus-Heilslehren herumwüsten.

WILLKOMMEN IN DER MONTAGEHALLE
Im etwa 200 Seiten umfassenden Hauptteil seines Buches nimmt uns Spiegel dann in sieben Kapiteln mit in die Werkstatt der SF, und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen SF (aber zu einem Gutteil eben die ganze moderne Phantastik) ihre Werke zusammenbosselt. Es geht dem Autor dabei nicht darum zu postulieren, wie gute SF zu sein hat, sondern Spiegel will genauer herausstellen, was SF-Werke auszeichnet, die als gelungen angesehen werden. Dies beginnt er erstmal mit der Erörterung narratologischer Fragen, also Fragen dazu, wie Geschichten erzählt werden und wie sie warum funktionieren. Nun kann man lernen, was genau fiktionale Welten sind, wie sie auf unserem Verstädnis und Wissen die reale (faktischen) Welt aufbauen, und wann sie in besonders in Filmgestalt ihre Zuschauer simpel gesagt überwältigen und kidnappen (ich sag nur Klangwelten & Heftigkeits-Steigerungs-Spirale).

(Peergroup-Druck mal beiseit) entscheidet und wertet letztendlich jeder Konsument einer Fiktion für sich selbst, wann ihm eine ausgedachte Geschichte oder gar Welt zu abgedreht, beleidigend, übertrieben ist. Solche Entscheidungen hängen davon ab, über welches Fakten-Wissen die Wirklichkeit betreffend der Leser verfügt, welche Art von Genuß er aus einer Fiktion ziehen will, welche Methoden der Darstellung, welche Themen und welche Handlungswendungen im vertraut und genehm sind, und wie flexibel die Vorstellungskraft und das Hineinsetzvermögen des Lesers ist. Um es kurz zu machen: gerade am Beispiel der in den letzten Jahren aufgekommen ›Virtuel Reality‹-SF-Sparte führt Simon Spiegel vor, wie vermeidlich Reales sich als Täuschung, Traum oder Halluzination entpuppt. So ein Verwirrspiel taugt nicht jedem. Der Eigentümlichkeit von Filmen wie »The Matrix«, »eXistenZ« und »Vanilla Sky« beruht nach Spiegel darauf (S. 162),

daß wir vorrübergehend keine Aussenansicht auf die fiktionale Welt erhalten und deshalb nicht sicher sein können, auf wie vielen Realitätsebenen sich die Handlung bewegt.

Und zu den Glanzstücken von Spiegels Buch gehört eine genaue Analyse der Gefängniszellen-Szene von David Lynchs Film »Lost Highway«. Hier zeigt der Autor sehr gewitzt, wie ein willentlich äußerst rätselhafter Film plausibel aufgedröselt werden kann, wenn man bestimmte Konventionen, z.B. der SF (Beam me up), als Erklärungshilfe nutzt.

Zum wesentlichen Werkzeug von SF (wie aller Phantastik) gehört die Metapher, also das Kostümieren von Gedanken und Inhalten. Metaphern zeitigen Erkenntnis (oder lenken ab), indem sie locker Gemeinsamkeiten und Verbindungen herstellen, und somit neue Blickwinkel befördern. Achtung: Metaphern funktionieren nicht so streng wie Allegorien, denen immer fixe Entsprechungsregeln zugrunde liegen. Eine Metapher bietet mehrere Deutungsmöglichkeiten an, eine Allegorie nur eine (eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Wage ist immer Justitia; das böse Imperium aus »Star Wars« kann man deuten als Anspielung auf die Nazis, oder auf den militärisch-industriellen Komplex Amerikas, oder auf die kommerzielle Hollywoodmaschinerie). Interessant ist, wie Spiegel zeigt, daß sich bei Metaphern im Kleinformat die Spannung zwischen Konvention (Vertrautem) und Abweichung (Originellem) wiederholt, von der auch die Entwicklung eines Genres angestrieben wird. Grob gesagt: Was heute ungewöhnlich ist, schleift sich schön langsam zu etwas Üblichen ein und verkommt schließlich zur langweiligen Rezeptur (und mit etwas Glück und der Hilfe vieler dienstbarer & begeisterter Geister kann ein Revival den Kreisel neu andrehen).

Die folgenden Kapitel beschreiben nun im einzelne SF-spezifische Ästhetikfragen (wie Naturalisierung und Verfemdung, Erhabenes und Groteskes) und absolvieren dabei quasi nebenbei auch philosophisch-anthropolgische Steifzüge, am deutlichsten im Kapitel über (konzeptionelle) Durchbrüche, wenn Simon Spiegel seinen Leser einen Diskurs zur Frage »Was ist der Mensch?« offeriert. Das ist für mich wahrhaftige Sachbuchwonne, denn alle Phantastik wird zutiefst von ›philosophischen Energien‹ durchströmt.

ERLEUCHTUNG DURCH FABULATIONEN‹
Bisher habe diesen enorm wichigen Begriff der SF, Sense of Wonder, ausgespart, obwohl er sich wie ein Leitmotiv mit Variationen (das Novum, der Conceptual Breakthrough) durch Simon Spiegels Buch verteilt. In seinem knappen, dafür aber sehr persönlich gehaltenen Schlusswort legt Spiegel die Haltung des nach strenger Distanzierung trachtenden Wissenschaftlers ab, und schildert richtiggehend ergreifend seine Kino-Sense of Wonder-›Initiation‹, wenn er sich erinnert, wie er als Sechzehnjähriger zum ersten Mal »Blade Runner« sah (S. 331f):

…nichts hatte mich auf das vorbereitet, was ich in den folgenden zwei Stunden erleben sollte — denn ein Erlebnis war diese Vorführung in der Tat. Ich sah nicht einfach einen Film, ich wurde vielmehr von ihm in Bann geschlagen, verfolgte mit offenem Mund die Geschehnisse auf der Leinwand, tauchte ganz in das düstere Los Angeles des Jahres 2019 ein. {…} Am nächsten Tag war ich immer noch wie benommen. Mir war klar, daß ich etwas Besonderes gesehen hatte, daß »Blade Runner« mehr war als ›bloß ein Film‹. Auf der Kinoleinwand hatte sich eine neue Welt entfaltet, wurden große Themen und tiefe Gedanken verhandelt, die ich zwar kaum artikulieren, dafür umso intensiver fühlen konnte. Kino war mit einem Mal mehr als reine Unterhaltung, es war zu etwas Wichtigem un Kostbaren und Wunderschönem geworden.

Wenn ich nun ›Sense of Wonder‹ schlicht mit ›umfassenden Staunen‹ übersetzte, kann ich hoffentlich überzeugend meine Ansicht unterstreichen, daß Phantastik-Genres mit nichts weniger hantieren, als eben der grundmenschlichen Sehnsucht und Fähigkeit, sich vom eigenen Leben und der Welt an sich hingerissen verblüffen zu lassen. Die SF bedient sich zum Herstellen glaubwürdiger Einbettung für dieses umfassende Staunes vornehmlich des Fundus, den Wissenschaften und Technik zur Verfügung stellen. Diese Fähigkeit zum Staunen ist es, die Menschen einerseits davor bewahrt, von den niederziehenden und beengenden Tatsachen des wirklich stattfindenden Lebens vollends entmutigt zu werden; aber (leider) kann andererseits dieses Staunen mißbraucht werden, um daraus betäubende, entmündigende Verführungskarotten zu machen, denen Spektakeljunkies willig hintergerzockeln.

Simon Spiegel schafft es Dank klaren Stils, gewissenhafter Recherche sowie einem guten Händchen für griffige Zitate und augenöffnende Beispiele (dem Buch liegt eine DVD mit wundervollen Exempeln bei!), seinen Leser ein aufgewecktes Gespür für dieses Staunen zu vermitteln, vor allem natürlich, was SF-Filme angeht, aber auch Phantastik und Geschichenerzählen überhaupt betreffend. Die argumentative Schärfe und umsichtige Art Spiegels essentialistischen, idealistischen und (durch welche Motive auch immer) ›willkürlich‹ bestimmten Wertungs-Hierarchien auszudribbeln, macht darüberhinaus das Buch zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle, die sich für SF, Film und Medien interessieren.

—–
Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films«
Zürcher Filmstudien 16; Schüren Verlag; Marburg 2007; 33 z.T. farb. Abb., DVD mit Filmbeispielen, 385 Seiten.

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Ein Kommentar

  1. molosovsky Says:

    Grad eben gab mit Simi per eMail bescheid, dass meine Rezi zu seinem Buch vom Schüren Verlag zum Werbe-Blurb für den Katalog 2007/2008 auserkoren wurde. Das freut ich freilich ungemein.

    Hier noch eine kleine Rundschau zu weiteren Rezensionen über Simons Buch, die mittlerweile im Netzel erschienen sind.

    Der wohl edelste Rezilink führt zum seriösen Rezensionsforum von Literaturkritik.de, wo Rolf Löchel am Ende auf eine der kritischsten Erkenntnisse von Simon Spiegel zu sprechen kommt:

    {…}wenn SF »dank ihres Wesens und Funktionierens besonders dazu geeignet ist, den Sense of Wonder zu erzeugen«, scheine Science Fiction kein »Modus des visionären Vorwärtsschauens« zu sein, sondern vielmehr einer des »wehmütigen Blicks zurück, zurück in jene Zeit, als die Zukunft noch jung war und alles möglich schien«. Da ist dem Autor zumindest eine originelle Wendung gelungen, die zudem so verkehrt wohl gar nicht ist.

    Ines Schneider ist in ihrer Rezension für »Schnitt.de« sehr kritisch (jedoch fair), weist aber auch auf gelunge Erkenntnishilfen von Spiegels Buch hin, wenn sie z.B. schreibt:

    Der Autor legt das Wechselspiel zwischen Filmemacher und Rezipienten offen. Science Fiction muß bis zu einem gewissen Grad das Unbekannte bekannt wirken lassen, um das Verständnis der gezeigten Welt zu erleichtern. Doch der Reiz einer Science Fiction-Erzählung besteht darin, andere Eindrücke zu bieten, als sie der Alltag bereithält. Im besten Fall fügt ein Werk dem Genre, formal oder inhaltlich, noch eine neue Seite hinzu.

    Sven Jachmann lobt in seinem (feinen) »Fixpunkte«-Blog:

    Im Schlusswort schreibt Spiegel: »(…)Wahrscheinlich steht er (der SoW, Anmerk v. »Fixpunkte«) als Grunderfahrung am Beginn jeglicher Liebe zur Kunst — vielleicht sogar der Liebe überhaupt.«
    Deswegen sei das Buch auch jedem Sci-Fi-Desinteressierten wärmstens empfohlen. Einen besseren Beziehungsratgeber hat es seit Jahren schon nicht mehr gegeben.

    In seinem vorzüglichen Buch- und Film-Blog schreibt Oli:

    Da man es gerade in der SF häufig mit ›fannischen‹ Texten zu tun hat (that comes with the show), ist es richtig wohltuend, mal die Zeilen eines Autors zu lesen, der seine Begrifflichkeiten präzise durchhält und klarsichtig auf viele Misslichkeiten und Unstimmigkeiten in ›üblichen‹ Diskussionen hinweist. Das liest sich spannend und, vor allem, das schärft ganz gehörig den Blick auf das Objekt der Leidenschaft.

    Achim Hiltop hat für den »Fantasyguide« das Buch gelesen und lobt eine Leistung, die bei mir etwas außen vor blieb:

    Besonders gelungen sind die Ausführungen über die Naturalisierung und die Verfremdung im Science-Fiction-Kino. Die Bestrebungen, einerseits die bizarrsten Phantasien realistisch und »natürlich« darzustellen, andererseits aber auch ganz alltägliche Dinge in einem völlig neuen Licht erscheinen zu lassen, sind gewiss Kernelemente der Science Fiction.

    Rupert Schwarz hat das Buch für »FictionFantasy« knapp besprochen.

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