Mittwoch, 19.10.2005 | 22:45 Uhr

Autor: molosovsky

Erster Nachtbericht von Molosovsky

{EDIT am frühen Donnerstag: Links ergänzt und einige Schreibfehler gemerzt.}

Jedes Jahr bildet sich auf dem Gelände der Frankfurter Messe ein beeindruckendes Verwertungsorgan in merkantilen Literaturangelegenheiten heraus. Dann wuseln tausende kleiner Literaturverdauungsenzyme durch den zeitlich begrenzen Ausstellungsdarm, vuglo: die Buchmesse. Oder auch: Jedes Jahr scheint ein Festival unterschiedlichster Raumschiffe mit buch- und medienbesessenen Außerirdischen an Bord in Frankfurt zu landen, und die Aliens beteuern durch die Bank, es ginge ihnen um Bücher, Bücher, Bücher, dabei weiß jeder, die Idealisten genauso wie die Geschäftemacher, daß es um den Markt geht, um Geld, Geld, Geld. — Solche Gedanken flirren mir als Phantast mitunter (oder drunter und drüber) durchs Hirn, wenn ich über die Buchmesse nachdenke, und Phantast sein hilft mir auch dabei, mich selbst mit den süßen Miasmen einer aus dem Schreiben und Lesen gespeißen Aufklärungs-(›Enlightment‹)-Träumerei zu benebeln, und mir vorzumachen, daß es eben doch eigentlich und zu allererst um tolle neue Bücher, Geschichten, Bilder, Berichte über Gott und die Welt, eben um Literatur und was daran hängt geht.

9:31 Vom Laufband auf dem Weg zu den Ausstellungshallen sehe ich die erste Werbung: einen Wallace & Gromit-Aufsteller vom neuesten ersten abenfüllenden Knetmänchenfilm. Ein gutes Omen, denn ich mag die Abenteuer des erfinderischen Käsefeteschisten und seines gutmütigen Hundes.

9:50 Aus Zufall — die Wege des Herren sind unergründlich — lande ich zuerst beim Lübbe Verlag. Dessen Taschebuchsegment Bastei unterhält seit vielen Jahren eine interessante Phantastikabteilung. Im Dezember erscheint der neue Roman von China Miéville »Der Eiserne Rat«, den ich vom Fleck weg jedem aufgeschlossenen und zuweilen auch mal waghalsig gelaunten Leser zur inniglichen Beherzigung anempfehlen kann. Ist aber noch kein Exemplar auf der Messe, noch nicht mal als Dummy. (Dummys sind Bücher, die von Außen fertig aussehen, um schon mal repräsentabel herumzustehen, innen aber blanko sind.)

9:53 Ein Herzinfarkt streift mich und der Laut eines panisch erschreckenden Nagetiers (man denke an »Ice Age«) entfleucht mir. Pamela Anderson schwebt als liegende, mindestens zehn Meter große Riesin nackisch und nur spährlich mit Glitzerschnippseln beglimmert über der Menge: ich bin am Stand des Taschenverlages. Wie immer wenn mir erotophilen Augenmenschen die Blöße in der Öffentlichkeit dermaßen aufdringlich entgegenquillt, frage ich mich, was dieses Bild an Stimmungswettereinflüßen bringen oder sagen soll: »Hey, wenn sich alle so wie ich nur richtig zu räkeln verstünden, dann flutschte der Kulturbetrieb wie geschmiert«; oder: »Yeah Baby, ich gebe mich ganz dem industrietechnisch aufbereiteten Angegegucktwerden hin, und das nennt man dann verlegt werden« — Oder? Das mir Peinliche ist dabei, daß ich den Taschenverlag sehr mag und aufrichtig einstimme in den Geburtstagsgratulanten-Chor: »Glückwunsch zu 25 Jahren tollen Bildbänden!«.

12:00 Beim Stand K 832 des Comicbereiches rastet mein Blick in einer optischen Kerbe ein: bunte Fantasy-Kunst, inmitten derer ich Bleistiftskizzen von Großmeister Brian Froud erspähe. Froud hat nicht wenig mit seinen Schöpfungen für den Puppenspielfilm »Der Dunkle Kristall« dazu beigetragen, daß ich so ein Phantastik-Narr geworden (geblieben) bin.Wo bin ich da? Ich bin bei Norm Hood, einem kompakten, leicht vollgrauhaarigen Amerikaner, der mit seinem kleinen Verlag Chimera Publishing zum ersten Mal in Frankfurt ist. Im Dezember des Jahres wird das Buch fertigsein, dessen Probeseiten mich verführten: »The Secret Sctechbook of Brain Froud«. Frouds Fairiebücher (Elfen) und seine Kollaborationen mit Terry Jones und Alan Lee sind sehr vergnügliche Fantasy-Kunst, wenn man etwas süßlichere, leichtere Phantastik mag (was nicht heißen soll, daß Froud ›Kitsch‹ macht, oder die düstereren Aspekte der Elfenfantasy mehr schlecht als recht illustriert).

13:00 Bei Edition Phantasia ist noch nicht viel los und unversehens werde ich damit geehrt, daß ich zwanzig Minuten mit Joachim Körber plauschen kann. Zusammen mit Uli Kohnle verlegen sie die Phantastik, die sie mögen, in schönen Ausgaben. Seitdem die beiden neben den etwas kostspieligeren Sammlerstücken auch eine Paperback-(Taschebuch)-Reihe betreiben, bin ich Fan von ihrem Verlegen. Zu günstigen Preisen gute deutsche Ausgaben von Klassikern der modernen anglo-amerikanischen Phantastik, wie Ray Bradbury, J. G. Ballard, und meinem besonderen ›Herz und Magen-Schwert und Magie‹-Autor Fritz Leiber, dessen Kurzgeschichten-Zyklus um Fafhrd den Grauen Mausling zum Besten gehören, was diese Fantasy-Spielart je hervorgebracht hat, und die für mich persönlich in einer Reihe mit Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes und Clive Barkes Blutbüchern stehen: handwerklich guter ›Trash‹, der so manche leblose Hochkulturprosa deklassiert. — Mit Herrn Körber habe ich über die tolle Ausgabe der China Miéville-Novelle »Spiegel« geredet (Fans von Jorge Luis Borges sollten sich diese Geschichte vornhemen!); sowie über die super-vollständige H. P. Lovecraft-Werksausgabe von Edition Phantasia, die bald mit den Gedichten fortgesetzt wird. Beide fanden wir kuriös aber auch toll, daß in den USA nun alle Essays von Lovecraft erscheinen, und Herr Körber berichtet, daß auch die ganzen Briefwechsel nun verlegt werden: allein die Korrespondenz Lovecraft-Derleth umfaßt drei dickleibige Bände.

13:20 Pause in der Presseabteilung. Leute treffen, weitere Wege absprechen, durchatmen. Andrea richte ich Grüße von Daniel Kehlmann aus, den ich am Rowohlt-Stand ›Hallo‹ gesagt und zu seinem neuen Buch »Der Vermessung der Welt« beglückwünscht habe (zuletzt babbelten wir beide vor einem Vierteljahr auf einer Bierbank über die Tiefenstrukturen von »Star Wars«, wers glaubt). Kurz zuvor hat mich der Leibwächter von Stephen R. Hawking fast in die Rowohltkulisse gedrückt. Wie sanft diese Kerle einen aber auch wegschieben.

14:30 Comic des Jahres wurde an Craig Thompson und seinen deutschen Verlag Speed/Tilsner verliehen. Laudatist und Preisüberreicher sprechen wohl nicht so oft öffentlich, aber deren befangen-sanftpeinliche Ansprachen fand ich ganz symphatisch. Gewonnen hat jedenfalls ein umwerfendes Werk über die kleinen Dinge. Über 500 Seiten s/w Comic, dessen Titel »Blankets« sowohl (Bett-, Kuschel-)Decke, als auch z.B. die Schneebedeckung einer Landschaft bedeuten kann.

15:30 Schön zu entdecken, daß es eine Neuerscheinung zu Alfred Kubin gibt: »Der heimliche Lebenstanz. Alfred Kubin und der Tod«. Nicht nur für die Grufties und Goths unter den Phantasten interessant, was Andreas Geyer in dieser Monographie über diesen zwischen bildnerischen und dichterischen Musen Hin- und Hergerissenen schreibt. Auf zum Stand des Karolinger Verlages und den Knochenmann beim Einsammeln von Sterblichen gucken und schmunzeln und gruseln.

16:20 Beim Tropen Verlag springt mir ein Roman mit dem Titel »Troll — Eine Liebesgeschichte« von einer Finnin mit dem poetisch klingenden Namen Johanna Sinisalo (klingt fast wie ›Johanna ohne Gehalt‹) ins Auge. Oha, denk ich mir, les rein und stell fest: tatsächlich, da rumpeln ein haariger Troll und ein junger Photograph zusammen und das ergibt ehr Phantastik abseits der ausgetretenen Pfade.

17:00 Mit Andrea zusammen versuche ich eine Fan-Kurve für Oliver zu bilden. Wir sind bei der Diskussion »Webblogging« angekommen. Das Mikro ist nicht wirklich gut eingestellt, oder vielleicht grassiert bei allen Sprechern eine leichte Nuschelitis. Der Buchreport-Redakteur hat eine herrliche Bass-Stimme, deretwegen ich des Redakteurs Assoziationshudeln gern verzeih; Oliver sagt einmal ›Proporz‹ (freu) und hebt die Dialogigkeit der Bloggerei hervor (wobei ich Einspruch erhebe: denn das Kommentieren und Verlinken ist eine ›Kann‹- keine ›Muss‹-Angelegenheit); ein Reporter ohne Grenzen erinnert mich daran, daß es auch Blogger Ethik hegen, und man sich diesbezüglich bei cyberjournalist informieren kann; zuletzt berichtet ein anderer Oliver von der Frankfurter Rundschau, daß dort jetzt die beiden stellvertretenden Chefredakteure bloggen, und beschenkt mich mit dem grenzgenialen Begriff ›Bürger-Jounalisten‹. — Nach der Diskussion standen plötzlich mehrere Frankfurter Blogger (bzw. Flickr) zusammen, irgendjemand gab den Schlachtruf ›Buffett‹ und wir sprangen auf unsere Schlachtrosse, erbeuteten hervorragende butterbestrichene Brezn und Pils beim Springer-Verlag und verbarrikadierten uns hinter Sprechblasen an einem verwaisten Tisch.

Ich habe niemanden beleidigt, mäßig getrunken, einiges gelacht, viel gestaunt, nirgendwo hingekotzt und keinen Nervenzusammenbuch hingelegt, ergibt: großartiger erster Tag auf der Buchmesse.

oliverg-ampodium

OliverG auf dem Forum Innovation, als Prediger für Weblogs — Foto: (Andrea Diener)

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10 Kommentare

  1. Tanja Says:

    Danke, danke, dass du für mich beim Taschenverlag warst und nett, dass du trotz Sympathie objektiv über die Staffage berichtest. Ich habe offenbar richtig getippt:
    http://www.muenstergass.ch/blog/?p=550

  2. molosovsky (Alexander Müller) Says:

    Ich habe (in geldreichereren Zeiten erworben) einen Richard Kern- und zwei Jan Saudek-Photobände und die »Erotica Universalis«-Ziegel aus dem schweinischen Taschen-Programm. Sehr schön auch der »Alchemie und Mystik«-Band. Taschen ist ein ungewöhnlicher Verlag, kein Zweifel. Aber die von Taschen zuweilen betreibene Begeisterung für Brachial-Glamour ist mir dann doch abhold.

  3. Jagdreisen Auner Says:

    Der Taschenverlag ist ein grossartiger Verlag. Warum molosovsky Ihn als schweinischen Taschen Verlag bezeichnet, verstehe ich nicht, da alle aufnahmen professionel und definitiv nicht schweinisch sind.

  4. Oliver Gassner Says:

    Ironie? Lexikon? es gibt ja deren Kunstprogramm mit Magritte und so und dann das mit dem nackten Fleisch. Welcher Teil a welchen co-finanziert wage ich nicht zu raten 😉

    Sie mögen ja die Wildschweinchen auch so sehr dass Sie Leute zu ihnen hinfahren, damit sie sie liebevoll und waidgerecht über den Haufen ballern können (die Leute die Sauen), oder?

  5. molosovsky Says:

    Mit etwas verspätung:
    Oh, liebe{r?} Jagdreisen Auner, bitte verstehen Sie meine wortknaller nicht als diss GEGEN den taschenverlag. Freilich kann man sich um die genaue klangauffassung des wortes ›schweinisch‹ streiten … aber ich meine das oben überwiegend anerkennend. Könnt ich auf bände aus dem hause taschen zeigen und konkret sagen: »Das ist brachial-glamour!«? — Jupp. Mach ich aber nicht, sondern verweise indirekt auf die möglichkeit (mir zu) platt-dumpfer erotik die der ein oder andere band des Taschen verlages bietet, indem ich die dafür exemplarische ausstaffierung des standes (2005) ausdeute. — Saudek und Kern hab ich ja eben als im gegenteil empfehlens und mal-reinschauens-wert bemüht, denn ihre photobildbände sind (für mich zumindest) alles andere als ›schmuddelkram‹ (auch wenn mensch sie sich freilich zu schmuddeligen zwecken nutzten kann, nu). In sachen erotik bin ich unumwunden ein medien-neugieriger, was sich zu einem gutteil mit meinem interesse als allgemein-phantastiker deckt (no pun intened). Insofern reich ich hiermit gern noch eine empfehlung für die augen-für-milieu-und-zeitläufte-öffnenden sammelwerke »Erotica Universalis« und »Erotica Universalis 2« nach.

  6. Literaturwelt. Das Blog. » Blog Archive » Aufbruch erster Tag: und gleich Phantastik beim Reingehen Says:

    […] Für mich Rundum-Phantast gleich markant: auch dieses Jahr (letztes Jahr war’s Wallace & Gromit) ziert den langen Laufband-Zugangs-Gang Werbung für die nächstgehypte Monomythos-Jugend-Fantasy-Verfilmung: »Ereagon«, das nächste Vehikel, das auf der Modewelle von Harry Potter, LOTR* und Narnia. Werd ich warten können, bis ich den Film auf DVD abhaken kann. Als Serien-Meider werd ich die Bücher ziemlich sicher nicht verköstigen. […]

  7. Tippfehler Says:

    Danke für den Bericht der letztjähringen Messe.

    PS: Gab es denn den Comic-Preis schon letztes Jahr (2005)?

  8. molosovsky (Alexander Müller) Says:

    Seit 2004 gibts den Sondermann.

  9. enzyglobe » Blog Archiv » Feteschist (Suchstripp V) Says:

    […] vorhin beim Stöbern in der Literaturwelt auf einen schönen Tippfehler gestossen; …denn ich mag die Abenteuer des erfinderischen Käsefeteschisten und seines gutmütigen Hundes… schreibt da Molosovsky alias Alexander Müller […]

  10. molosovsky (Alexander Müller) Says:

    Ohje. Erweischt. — Ohne protzen zu wollen, vermute ich, daß man in meinem Blog (und meinem im Netz verteilten Kommentaren und Forenbeiträgen) genug Tippfehler und ›Idiotsynkratien‹ finden kann, um damit einen peinlichen Band an Sprachschluderei zusammenzustellen. — Ganz schlimm wirds, wenn dabei wirklich Irriges vermittelt wird. In meiner Rezi zu Ian R. McLeods »Aether« im MAGIRA 2006 steht gedruckt (S. 189): Moment, ich will andeuten, dass Aether eine entmutigende Depri-Lektüre ist. Da fehlt an entscheidender Stelle das Wörtchen ›nicht‹ (andeuten). Mein Fehler, denn so gab ich’s ab. Nun ja; der wohlmeinende Grundton dieser Rezi wird wohl dennoch meistenfalls als Empfehlung gelesen werden … hoffe ich.

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