Samstag, 29.03.2008 | 11:24 Uhr

Autor: molosovsky

»Sandman« Band 3 von Neil Gaiman & Co. PLUS: »Hilfreiche Handreiche« für deutsche Leser

Willkommen zur dritten Folge (von zehn) über die »Sandman-Bibliothek«, die seit Frühjahr 2007 endlich in angemessener Aufmachung im Quartalsrhythmus von Panini/Vertigo herausgebracht wird. »Traumland«, versammelt vier für sich allein stehende Kurzgeschichten, die 1991 als Einzelhefte Nr. 17 bis 20, und im Englischen als Sammelband 1995 erschienen sind.

Wie schon ihre beiden Vorgängerbände »Präludien & Notturni« und »Das Puppenhaus« trumpft die deutsche Ausgabe von »Traumland« auf mit einem gestochen klaren Druck und einer leuchtenden, nuancenreichen Digital-Kolorierung. Wahrlich, eine Augenweide.

»Traumland« bietet einen erfrischenden Sprung raus aus dem bisherigen großen Erzählstrom, über den Fall und Wiederaufstieg des Herrschers der Träume. Von Beginn an war es eine Absicht von Gaiman bei der Gestaltung von »The Sandman«, zur Abwechslung zwischen den längeren Geschichten, deren Handlungsbögen sich über mehrere Kapitel/Einzelhefte spannen, abgeschlossene Einzelerzählungen zu bieten. Insgesamt werden zudem alle Sammelbände und die Sandman-Geschichte im Ganzen geprägt, von der auffälligen Eigenheit ineinander verschachtelter Geschichten. Strukturell steht Sandman damit solchen Potpourrie-Schatzkammern wie »1001 und eine Nacht« oder Jan Potockis »Handschriften von Saragossa« nahe, und kann sich ohne dass man übertreiben muss, als moderne, eben im Comicmedium dargereichte Variante derartiger ehrenvoll-wilder Fabulations-Klassiker behaupten.

Zur Erinnerung: Band 1, »Präludien & Notturni« hat uns die manchmal nur am Rande auftretende Hauptfigur des Epos, den Herren der Träume, Morpheus, Dream, vorgestellt, und wie dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem englischen Scharlatanmagier beschworen und gefangen gesetzt wurde; wie Dream nach vielen Jahrzehnten erst in den Achtzigerjahren seinem Kerkermeister entkommt und langsam seine Kräfte wiedererlangt und sich auf eine Quest begibt, um die wichtigsten und machtvollsten seiner zwischenzeitlich verstreuten Herrschaftsartefakte einzusammeln. — In Band 2, »Das Puppenhaus«, kümmerte sich Morpheus dann um die Restauration des in seiner langen Gefangenschaft verwahrlosten Traumreiches. Vier der machtvollsten Traumreichbewohner waren ausgebüchst und sorgten in der Menschenwelt gehörig für Angst und Schrecken. Außer um diese Ausreisser, hatte sich Morpheus auch noch um einen alle Träume erfassenden Wirbel zu kümmern, der sich in Gestalt der jungen Frau Rose manifestierte. Nebenbei lernten wir zwei Geschwister von Dreams seltsamer Familie der ›Ewigen‹ kennen (eine siebenköpfige Sippe menschenförmiger, universeller Prinzipien deren Namen im englischen alle mit ›D‹ beginnen): seine ältere Schwester Tot (Death, die als überraschend gut gelauntes und bodenständiges Grufi-Chick daherkommt) und die/den gegen Morpheus intrigierende(n) geschlechtsneurtale(n) Begierde (Desire).

Mit Band 3 hat Gaiman seine bis dahin etwas tastende anfängliche Suche nach dem richtigen Ton und Rhythmus der Sandman-Comics endgültig abgeschlossen. Das soll nicht heißen, dass die Geschichten der ersten beiden Sammelbände misslungen sind. Die Ambition, die Gaiman bei seiner Saga antrieb, ist gehörig repekteinflößend und die gesteckten Ziele alles andere als Kinderspiele. So zeichnet sich Sandman von Beginn an durch eine äußerst eng gewobene und geschickte Mischung von alten Mythen, klassischer Literatur mit älterer und zeitgenössischer Popkultur aus, die miteinander verflochten eben nichts weniger ergeben, als eine große Geschichte über das Geschichtenerzählen selber, eine Geschichte über die Kraft von Mythen, jene trügerischen Wunschvorstellungen die mal als Orientierung, mal als Irreführung über die großen Zusammenhängen des Daseins berichten, hier vor allem über Erinnerung, Verlust und den Wunsch und die damit verbundenen Schwierigkeiten, wenn man sich verändern, formen will.

Zu den vier Geschichten von »Traumland« im Einzelnen.

»Kalliope«: Hier treten antike Gestalten in der modernen Welt auf, und eine unheimlich-spöttische Erzählung über das moderne Schriftstellerdasein wird geboten. Die Muse Kalliope wird als inspirations-liefernde Sklavin gehalten und von einem altem Schriftsteller in London an einen jungen Horror-Autoren für ein alchemistisches Artefakt eingetauscht. Von zwei der beklemmensten Schrecknissen aller Kreativen wird dabei berichtet: einerseits die Marter, wenn großer Tatendrang mit der Angst vor Ideenlosigkeit einhergeht und andererseits von den ruhelosen Qualen eines überbordenden Ideenreichtums.

»Der Traum von 1000 Katzen« ist natürlich ein Fest für alle Katzenfreunde, wenn hier bei einem nächtlichen Treffen auf einem Friedhof eine versammelte Felidenschar einer Katzenerzählerin lauscht, die von ihrer Reise zum König der Träume erzählt (der sich in seiner Gestalt immer gemäß der ihm Begegnenden anpasst und hier als große schwarze Katze mit rotleuchtenden Augen auftritt). Diese Geschichte führt die Fähigkeit kraftvoller Phantastik vor wenn es darum geht, die menschliche Perspektive zu überwinden, und von ein paar Schritten Seitwärts der Wirklichkeit, in diesem Fall aus der Sicht von Katzen, über große Not und sinnstiftende Visionen (oder sind es nur scheinbar Hoffnung machende Truggebilde?) zu reflektieren.

»Ein Sommernachtstraum«: Diese Geschichte ist für viele ein heißer Kandidat, wenn es um die Frage geht, welches der 75 Kapitel/Einzelhefte von Sandman die aller aller beste ist. Und tatsächlich erregte dieses herausragende Meisterstück der Sandman-Saga über die comiclesenden Phantastikzirkel hinaus für Aufsehen, als es 1991 den ›World Fantasy Award‹ als beste Kurzgeschichte gewann. — »Ein Sommernachtstraum« ist eines von zwei Sandman-Kapiteln, mit denen Gaiman dem großen William Shakespeare seinen Respekt zollt. Die zweite, »Der Sturm«, wird erst als letztes Kapitel den Sammelband »Das Erwachen« und damit als Epilog das ganze Epos abschließen. Shakespeare und seine Truppe sind hier in Sussex unterwegs und geben eine exklusive Premieren-Sondervorstellung für eine illustrere Schar aus dem Feenreich, angeführt von niemand anderem als Titania und Oberon selbst. Auch der lustig-unheimliche Droll (auch als Puck bekannt) ist mit von der Partie und macht sich auf und davon für seine spätere, sinistere Rolle in der großen Sandman-Geschichte.

»Fassade«: Mit dieser Geschichte widmet sich Gaiman einer vergessenen Superheldin der 60er-Jahre, um ihr eine tragisch-melancholische Abschiedsvorstellung zu bereiten. Außergewöhnlich ist, dass Dream selbst gar nicht vorkommt in dieser tragischen Erzählung über Element Girl, eine Frau, die sich ängstlich zurückgezogen hat. »Fassade« ist eine sehr melancholische Geschichte über eine Person, die wegen ihrer Fähigkeit der Gestaltwandlung den Kontakt zur Außenwelt verloren hat, und die sich, da sie unsterblich ist, nach einem erlösenden Ausweg sehnt. Wie immer, wenn Sandman über unser Verhältnis zur Provokation des Sterben-Müssens sinniert, betritt Dreams Schwester Death die Erzählbühne um einer in der eigenen Auswegslosigkeit gefangenen Figur den Kopf zurechtzurücken.

Besonders erwähnen muss ich die vier Cover des englischen Grafikmagiers und Gaiman-Kumpels Dave McKean. Okey, ich geb zu, ich folge fast allen Arbeiten von McKean mit treu ergebener Fan-Hingerissenheit, aber die vier Arbeiten der »Traumland«-Sammlung zählen für mich zu den allerfeinsten Bildern, die er je zusammengezaubert hat.

Es ist verständlich, wenn man als Neuleser zögert und unsicher ist, ob sich denn die Anschaffung der zehn Sammelbände dieses Comicromans lohnt. »Traumland« ist eine vorzügliche Möglichkeit, sich erstmal eine Kostprobe zu gönnen, denn die hier präsentierten Geschichten verschaffen auch dann großes Lesevergnügen, wenn man keine Ahnung vom weiten Terrain der großen Sandman-Erzählung hat, und sie liefern dabei dennoch einen kraftvollen und sehr abwechslungsreichen Einblick zu diesem herausragenden Werk.

Und hier zum Schluß noch die deutsche Fassung der Anmerkungen zu Sandman für alle, die sich nicht mühen wollen mit der englischen Fassung, die sich aber dennoch aufmachen möchten, die tieferen Schichten dieses anspielungs- und zitatenreichen Comics zu ergründen. Viele Leser haben unter Leitung von Greg Morrow und David Goldfarb (und Websiten-betreut durch Ralf Hildebrandt) diese »Annotations« zusammengestellt, die ich bearbeitet, ergänzt und übersetzt habe und hiermit den deutschsprachigen Lesern als »Hilfreiche Handreichung« zu »Traumland« als PDF zum Download (ca. 211 KB) biete.

Dieser Beitrag erschien (leicht erweitert) zuerst in der Molochronik, wo exklusiv auch eine kleine Rezi-Linkrundschau zu finden ist.

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3 Kommentare

  1. Daniel Says:

    Ein sehr schöner Beitrag, vorallem die „Hilfreichen Handreichungen“ haben mich angespornt Sandman demnächst noch einmal zu lesen. Gaiman ist genial!

    Ich freue mich auf die nächste Ausgabe der Handreichungen zu „Die Zeit des Nebels“ 🙂

    Weiter so!

  2. molosovsky Says:

    Danke! — Die nächste Handreiche kommt, wie immer aber erst ca. mit einem Sammelband Verspätung. Die Handreiche zu »Die Zeit des Nebels« werd ich also etwa fertigmachen, wenn »Über die See zum Himmel« erscheint, also Juno ‘08.

  3. Daniel Says:

    Das ist schön 🙂 Freu mich schon drauf!

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