Sonntag, 19.08.2012 | 13:21 Uhr
Autor: Oliver Gassner
So ganz entscheiden wollen sich die Brüder Grimm in ihrem epochemachenden deutschen Wörterbuch nicht, ob das Wort „Narr“ aus dem Germanischen oder Lateinischen kommt. So würde es im ersten Falle ‚Naserümpfer/Spötter‘ bedeuten und im zweiten ‚(lächerlicher) Krüppel‘ – und beide Bedeutungsvaranten, das willentliche Spotten, im Residuum der alemannischen Fasnacht, und das unwillentliche Lächerlichsein haben sich bis heute erhalten.
Chris Inken Soppa, sie stammt aus Friedrichshafen und lebt in Konstanz, spannt dann auch die Handlung Ihres Romas zwischen zwei Rosenmontagen im närrischen Konstanz auf und entfaltet um den ungeschickten Antihelden mit dem disparaten Namen Milton Meier ein „Short-Cuts“-Mix aus Figuren:
Miltons Schwester Mime fällt als stamme Atheistin einem illegitimen Nachkommen Napoleons ins die Hände, der zum Islam konvertiert ist.
Die aus dem Zirkus davongelaufene Renée leckt noch ihre Wunden aus einer Mißbrauchsbeziehung und entfremdet sich von ihrem nur noch computerspielenden Sohn Quinn, der wie sie das absolute Gehör besitzt, zu Drogenbesorgungen erpresst wird, deswegen Schul- und Erpresserstress bekommt und erstmal untertaucht, bis Milton ihn auftreibt. Der zwangsneurotische Augenoptiker – ein Freund Miltons-, dem seine Psychologin Silke verfallen ist, die sich aber dann doch lieber an Milton halten würde. Und Clara, die Tochter aus guten, gar: bestem, Hause, die für Quinn nicht der richtige Umgang ist und im selben Ökoladen jobbt, in dem Milton als Eintüter seine Vollkornbrötchen verdient.
Dieses Kaleidoskop aus ganz normalen Nerotikern verwebt Soppa kunstvoll so ineinander, dass relativ am Anfang eine Leiche aufgrund eines Zusammenstoßes beim Rosenmontag steht und nicht ganz gegen Ende ein veritabler Krimineller hopsgenommen wird, der aber mit der Leiche, die sich als Unfall herausstellt, nichts zu tun hat. Zu viel verraten will man als Rezensent ja auch nicht.
Was an dem Buch fasziniert, ist, dass man immer den Eindruck hat, man könnte diese verschrobenen Typen alle kennen oder ihnen beim nächsten Gang zum Supermarkt begegnen. Das Spannungsfeld von Alltag und Unerhörtem lotet Soppa kunstvoll aus. Absurde Situationen – Milton zwängt sich als Museumswächter in eine NS-Feuerwehruniform, die Nähte platzen und er wird erwischt – , einmalige Erfahrungen – Sommerferien als Gast-Zirkuskind – und historische Tatsachen – wie dass Napoleon III. seinen illegitimen Kindern zur Identifikation tatsächlich Bronzeringe übergab – puzzelt sie in ein geistreiches Tableau aus komplexen Beziehungsgeflechten, das sich dennoch liest wie Butter.
Trotz der Folie der alemannischen Fasnacht, zwischen dem sich das Geschehen aufspannt, ist das Buch nicht wie Chris Inken Soppas erstes („Unter Wasser „) ein Bodensee- oder Konstanzroman, wenn auch das Kopfkino mir jedenfalls immer wieder Second-Hand-Läden in der Niederburg oder Optikergeschäfte in den Hauptstraßen an die innere Leinwand geworfen hat.
Wenn auch das Buch mit einer neu geschmiedeten Beziehung (oder zwei? oder gar drei?) endet: dem Lesenden bleibt das Gefühl, dass die Idylle nicht zwingend tragfähig bleiben muss.
Fazit: Amüsant, originell, geistreich, lesenswert.
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