Donnerstag, 22.12.2005 | 13:02 Uhr
Autor: Andreas Schröter
Nachdem die russische Jüdin Irene Nemirovsky zwei von geplanten fünf Teilen ihrer auf 1000 Seiten angelegten Gesellschaftsstudie „Suite Française“ fertiggestellt hatte, wurde sie im Juli 1942 im besetzten Frankreich von den Nazis verhaftet und einen Monat später in Auschwitz ermordet. Das Manuskript überdauerte 62 Jahre lang in einem Koffer. Erst 2004 entschloss sich die Tochter der Autorin, Denise Epstein, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Der sehr detaillierte Anhang des jetzt auch in Deutschland erschienenen Roman-Fragments vermittelt sehr deutlich anhand von Briefen den vergeblichen Kampf der Angehörigen und Freunde um das Leben der Schriftstellerin.
Das Buch, das als literarische Sensation gefeiert und bereits mit Tolstois „Krieg und Frieden“ verglichen wird, geht verkürzt gesagt der Frage nach, wie sich Menschen in Extremsituationen verhalten – hier: im Frankreich während der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg. Da gibt es im ersten Teil den Kunstsammler, der zum gemeinen Benzindieb verkommt oder das Ehepaar aus einfachen Verhältnis, das weitaus mehr Moral und Mitgefühl aufbringt als die Vertreter aus so genanntem „guten Hause“.
Der zweite Teil spielt in einem französischen Dorf, in das sich deutsche Soldaten einquartiert haben. Hier widersteht die Autorin der Versuchung der Schwarzweißmalerei. Weder werden die deutschen Eroberer als ausnahmslos böse, noch die französischen Opfer als ausnahmslos gut dargestellt.
Bemerkenswert an Irene Nemirovskys Prosa ist ihr gänzlicher Verzicht auf Wertungen. Der Text führt dem Leser die Ereignisse lediglich vor, und der kann sich dann selbst seine Urteile bilden. Die Autorin selbst sah sich mit dieser Schreibtechnik in der Tradition Gustave Flauberts („Madame Bovary“).
Aber auch als hervorragendes Zeitzeugnis kann „Suite Française“ gelesen werden. Ein Text über die Besetzung Frankreichs, geschrieben während der Besetzung Frankreichs. Unbedingt empfehlenswert.
Andreas Schröter
Irène Némirovsky: Suite Française, Knaus-Verlag, 22,90 Euro, ISBN : 3-8135-0260-0
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