Dienstag, 13.11.2018 | 09:04 Uhr
Autor: rwmoos
Begrabene Sterne
Die Himmelsscheibe von Nebra: Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas
Am letzten der drei freien Tage fahre ich nach Berlin, um dort die Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“ im Gropius-Bau zu besuchen. Dass ich dort zuvor anstehen muss, ist wohl der zeitgleich laufenden Ausstellung der von Kunsthändler Gurlitt gehorteten Gemälde geschuldet. Ich hasse Schlange-Stehen. Wozu bin ich eigentlich auf die Straße gegangen? Damals, 1989?
Leider ist auch die von mir favorisierte Ausstellung völlig überlaufen. Um die recht klein gedruckten Texte zu den Ausstellungsstücken entziffern zu können, muss man zudem einen bestimmten Winkel nahe an den das Licht reflektierenden Glasvitrinen einnehmen. Natürlich verbiegen in ebendiesem Winkel noch fünf bis sechs Mitmenschen ihre Körper und verstellen so die Sicht ganz.
Hinzu kommt die Schwäche so vieler ambitionierter Ausstellungen: Statt eine einzige Geschichte durchgängig zu erzählen, erschlagen sie mit der schieren Fülle von Einzelheiten. Hier hat man zudem den Eindruck, dass sich ein Teil des erzählten Duktus politisch anbiedern möchte. Für jemand, dem Internationalismus selbstverständlich ist, wirken die so platzierten Meta-Botschaften an dieser Stelle nervend. Die anderen sehen sich solche Ausstellungen ohnehin gar nicht erst an.
Im Schnelldurchlauf werden verschiedene Themen durch die Jahrtausende gejagt. Migration natürlich. Genetischer Austausch. Reisen und die zugehörigen Vehikel. Kunst. Et cetera pp.
Irgendwo hängt unlustig die Himmelsscheibe von Nebra herum. Das bronzezeitliche Smiley grinst hier weniger überzeugend als auf seinem Stammplatz in Halle oder in Nebra, wo man eine respektable Kopie präsentiert.
Ihren Zauber büßt sie hier im Gropius-Bau schon wegen eines profanen Umstandes ein: Aus dem Raum daneben dringt veritabler Lärm. Eifrige Jugendliche praktizieren dort „Urzeit-Handwerk“. Mit einer Feile wird ein Sägeblatt geschärft. Nicht ganz bronzezeitliche Technik, aber immerhin. Respektabel auch, dass die junge Frau die Feile wirklich gerade führt. Dem Kerl, der unweit davon mit Stechbeitel und Schlegel einen Stamm bearbeitet, möchte man allerdings ein paar Überlegungen zum Wesen von Holz und dessen Fasern gönnen. Ich aber bin ein Held und verkneife mir jedwede Bemerkung.
Fluchtartig verlasse ich statt dessen den wenig erbaulichen Kontext mit der Absicht, mir im Museumsshop lieber den Ausstellungskatalog zu besorgen, diesen dann in Ruhe zu Hause durchzulesen und so vielleicht doch noch zu der ins Auge gefassten Horizonterweiterung zu gelangen, die die Ausstellung selbst mir versagt.
Nachdem ich ein wenig im Ansichtsexemplar geblättert, bin ich mir aber dann doch nicht sicher, ob ich dafür die geforderten dreißig Euronen berappen möchte und kaufe lieber kurzentschlossen das Werk von Meller und Michel zum vergleichbaren Preis.
Bereut habe ich das nicht.
Im Prozess um die Echtheit jener prähistorischen Scheibe wurde Harald Meller von gegnerischer Seite vorgeworfen, dass er eine „krankhaft histrionische Persönlichkeitsstörung“ sein Eigen nennen dürfe, die sich ihrerseits durch egozentrisches, dramatisch-theatralisches Verhalten auszeichne. Angesichts seines Engagements im kriminalistischen Teil, als es darum ging, die im grauen Kunstmarkt zirkulierende Scheibe seinem Museum zu sichern, mag diese Einschätzung vielleicht nicht einmal völlig fehl gehen – allein man möchte der Wissenschaft doch gratulieren, dass ihr solche Leute dienen, die sich nicht dem Mainstream fügen und es zudem noch verstehen, ihre Ergebnisse – und damit freilich auch ein wenig sich selbst – ansprechend zu präsentieren. Mich jedenfalls beeindruckt der Mut, bestehende Denkweisen aufzugeben und damit neue Sichtweisen zu eröffnen.
Mellers Hauptthese: Die Existenz der Himmelsscheibe von Nebra zeigt, dass zu ihrer Zeit (also 1.800 – 1.600 ante Christum natum) eine Hochkultur im Raum des heutigen Sachsen-Anhalt blühte, die sich vor den gleichzeitigen Reichen Ägyptens und Mesopotamiens nicht zu verstecken brauchte.
Klingt wie ziemlich starker Tobak, doch verstehen es die Autoren, ihre These gut zu begründen. Dazu allerdings ist es auch nötig, den Staats-Begriff neu zu definieren, der bislang allzu sehr auf die Existenz von Schrift und Stadt fixiert war. In dem Reich von Nebra – wie die Autoren diese Kultur taufen – fehlten nämlich sowohl städtische Architektur als auch Schreibkundigkeit. Die Autoren begründen sehr gut, weshalb diese Punkte für das hiesige Staatsgebilde entbehrlich waren.
Ihre Argumentation soll hier nicht ausgebreitet werden. Dazu lese man lieber das Buch selbst oder greife zu einer der üblichen Standard-Rezensionen.
Was mich fasziniert, sind die vielen scheinbaren Abschweifungen und Parallelen, denen die Autoren nachgehen. Auf eine erstaunliche Bandbreite fachfremder Literatur wird sich da bezogen, um ausnahmsweise einmal das zu versuchen, was doch immer wieder gefordert wird: Aus der Geschichte tatsächlich zu lernen und Schlüsse für unser heutiges Leben zu ziehen.
In diesem Zusammenhang werden Pierre Bourdieu, Jared Diamond und Walter Benjamin ebenso bemüht wie Rousseau, Locke, Nietzsche, Levi-Strauss und immer wieder Max Weber – um nur einige Denker zu nennen. Da hat sich das humanistische Studium doch wieder einmal gelohnt. Von solcher Bandbreite des Denkens kann die Bachelor-Master-Generation unverschuldet nur mehr feucht träumen. Denn hier wird auch nicht nur zitiert, um die eigene Belesenheit zu dokumentieren. Hier werden Denksysteme verstanden, verarbeitet und in die eigene Gedankenwelt implementiert. Es tut einfach gut, diese Vernetzung nachzuvollziehen und als Leser begleiten zu dürfen.
Deshalb ist eben nicht nur ein Werk herausgekommen, das den archäologischen Fund einzuordnen sucht, sondern ein durchdachtes gesellschaftskritisches Werk von teilweise marxistischer Radikalität.
Wobei ein grundlegender Aspekt marxistischen Gedankengutes zurechtgestutzt wird: Dem Fortschrittsgedanken Marxens nämlich können Meller & Michel nur wenig abgewinnen.
Immer wieder dagegen wenden sie den Blick in nahezu Brecht’scher Manier weg von denen, die Geschichte in Wort oder Werk „geschrieben“ haben auf die, die sie durchlebten und ausführten. Wer baute das siebensternige Nebra?
Der abendländische Wissenschaftsgedanke lebt im Wesentlichen davon, dass jemand mit einer These vorprescht, dieselbe dann von Fachleuten diskutiert wird und aus dieser Diskussion entweder dermaßen gefestigt hervorgeht, dass sie zum Standardwissen avanciert – oder eben dermaßen falsifiziert wird, dass man sie zumindest in der Folge ausschließen kann. Die Mellersche These vom Staate Nebra hat gute Aussichten zur ersten Kategorie zu gehören. Ihre meines Erachtens größte Schwäche tut sich bei der Beschreibung des Staaten-Zerfalls auf, der mehr oder minder auf die Minoische Eruption zurückgeführt wird. Dieser Punkt und die zugrundeliegenden Überlegungen überzeugen mich nicht.
Nachdem nun das Werk zur Genüge gelobt wurde, seien noch ein paar weitere Stellen erwähnt, die mir als Schwächen erscheinen.
1. Die Eintaktung der Finder-Situation
Von den Autoren werden die beiden Männer, die mit Metalldetektoren die Himmelsscheibe und die anderen deponierten Gegenstände auf dem Mittelberg fanden, durch die Bank als „Raubgräber“ abqualifiziert. Aber ohne diese Menschen wäre die Himmelsscheibe wohl nie gefunden worden. Keine hundert Kilometer, genauer gesagt die Entfernung vom Mittelberg zur Bayerischen Landesgrenze, trennten das Geschehen zudem von einer ganz anderen Rechtslage. So gesehen erscheint die jeweilige Gesetzeslage innerhalb eines einzigen Staates, nämlich Deutschlands, auch ein wenig willkürlich. Leider verlief zudem der Übergang der Himmelsscheibe von den Findern und Vermarktern zu den Fachleuten und dem Museum konfrontativ, so dass sich das Schwarz-Weiß-Denken noch verfestigte. Die Vermarkter hatten dabei mit ihren exorbitanten Gewinnabsichten einen nicht unerheblichen Anteil.
Ein wenig mehr gegenseitiges Verständnis zwischen Staat/Bürokratie auf der einen und privatwirtschaftlichen Interessen auf der anderen Seite schiene mir da wünschenswert.
Als Anfang schlage ich vor, die beiden Finder künftig mit ihrem vollen Namen zu nennen (freilich nach Einholung deren Einverständnisses) und nicht mehr von Raubgräbern sondern von Schatzsuchern oder Hobbyarchäologen zu reden.
2. Die Interpretation der Sternenscheibe.
Mit einer Selbstverständlichkeit, die regelrecht verblüfft, werden die sieben zusammenstehenden Sterne als Siebengestirn (Plejaden) interpretiert. Da will der Augenschein doch nicht so recht mithalten. Wie man auch immer den siebenten Stern verortet – das Muster ähnelt den Plejaden, die am Nachthimmel zu sehen sind, in keiner Weise.
In der Ausstellung in Nebra ist davon die Rede, das die Plejaden vor fast viertausend Jahren anders am Nachthimmel standen, was ja nachvollziehbar wäre. Allein – von diesem Gedanken fehlt im Buch jede Spur und auch anderweitig wird auf die doch so deutliche Abweichung nicht eingegangen.
3. Die Größe des Sichelmondes.
Dieser ist deutlich größer angelegt, als der daneben stehende Vollmond, der ja im Buch dann lavierend mal als Mond, mal als Sonne, also quasi als Monne interpretiert wird. Zwar findet sich im zugehörigen Schlussabschnitt auf S. 119 die Behauptung, dass die von den Autoren übernommene Interpretation Rahlf Hansens auch die „vergrößerte Darstellung des Sichelmondes“ erklären würde. Allein genau das tut sie nicht. Jedenfalls nicht im vorliegenden Buch. Dort wird lediglich auf die Breite der Sichel eingegangen.
4. Die Verantwortung des Magdeburger Bischofs Wichmann für die Plünderung des Bornhöck im 12. Jahrhundert.
Zugegeben: Was Ressourcen etc. anlangt, wäre Wichmann von Seeburg die erste Wahl. Dass er sich im Nachbarsprengel kirchenstiftend betätigte, steht auch außer Frage. Allein die Herrschaft über Raßnitz war, wenn ich meinen Thietmar richtig erinnere, diesem zuteil geworden und gehörte deshalb nicht in die Hoheit der Erzbischofs nach Magdeburg, sondern in die Hoheit des Halberstädter Bischofs, in die der Erzbischof nicht einfach eingreifen durfte. Diese Abweichung sollte erklärt werden oder der übliche Verdächtige scheidet zumindest vorerst als Langfinger aus.
5. Die romanhaft vorgestellte These, dass das Wissen um astronomische Zusammenhänge durch die Verdienste eines Nebrenser Fürstensohnes im Rahmen einer Telemachie aus dem Orient in das Reich von Nebra gelangt sei.
Hier nämlich verlassen die Autoren ihren oben genannten geschichtsphilosophischen Ansatz, Geschichte eben nicht in erster Linie als das Werk einzelner Persönlichkeiten zu verstehen.
Diese fragwürdige These korrespondiert zudem mit dem ebenso fragwürdigen Ansatz, die Herrscher von Nebra als eine Art Schmiede-Könige vorzustellen.
In beiden Fällen wäre ein gedanklicher Ansatz plausibler, der im Buch an anderen Stellen durchaus auch anklingt: Dass nämlich die Fürsten es lediglich verstanden, sich die zeitprägende Waffentechnologie und ihre Träger als Herrschaftsinstrumente in Ausschließlichkeit untertan zu machen und dadurch ihre Herrschaft zu festigen. Ähnlich wie Fürsten im Mittelalter ihre Herrschaft durch das Schießpulver-Monopol legitimierten.
Den reisenden Fürstensohn muss man bei solchen Gedankenspielen nicht einmal ersetzen. Stellt man ihm aber einen Mitarbeiterstab zur Seite, wird es wesentlich wahrscheinlicher, dass sich darunter auch der eine oder andere sternhelle Kopf befunden haben dürfte.
Tüchersfeld, November 2018
Reinhard W. Moosdorf
Tags: Sachbuch, Wissenschaft
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