Sonntag, 18.06.2006 | 11:23 Uhr
Autor: Oliver Gassner
Märchensatire über Diktatur und Macht – Stück von Jewgeni Schwarz
1943, zwei Jahre lang ist Leningrad von den Deutschen belagert. Jewgeni Schwarz ( 1896-1958) und seine Theatertruppe werden ausgeflogen und er nimmt die Arbeit an einem bereits 1940 begonnen Theaterstück wieder auf: „Der Drache“. Ihn beschäftigt die Frage des Innenlebens von Menschen unter einer Diktatur. 1944 soll das Stück, das jetzt auch die Freie Waldorfschule Vaihingen/Enz inszeniert hat bei einem Gastspiel in Moskau gespielt werden. Das Stück, das sich an der Oberfläche gegen die Nazis richtet wird nach zwei öffentlichen Proben von Stalin verboten: Auch die Sowjetdiktatur erkennt ihr Zerrbild im Spiegel des satirischen Märchenstücks wieder.
Eine Stadt steht unter der Fuchtel eines Drachen. Seit 400 Jahren verlangt er alljährlich eine Jungfrau seiner Wahl als Opfer. Man hat sich mit dem Drachen eingerichtet und Elsa und ihr Vater ergeben sich in ihr Schicksal: Sie soll dieses Jahr das Opfer sein. Doch ein Störenfried schneit herein: Der Profi-Held Lanzelot (ironisch romantisch gespielt von Philipp Schuhmacher), entfernt verwandt mit seinem Namensvetter aus Artus Tafelrunde, verliebt sich in Elsa (mal scheu und mal als Furie: Jane Treiber) und fordert den Drachen heraus. Dessen Rolle ist, passend zu seiner Kopfzahl auch dreigeteilt: Thomas Eberwein, Judith Steden und Simona Schöbel agieren als geschniegelt-bestiefeltes und menjoubärtiges Hitlerzitat, mit graumeliertem Stalinanklang oder blondes Gift: Der Drache hat längst Menschengestalt angenommen. Und er vereinnahmt diem Menschen nicht nur in seinen Magen: Elas Verlobter Heinrich (als herrlich miesepetriger Macchiavellist: Julian Hitschler) wird „zum Trost“ zunächst zu seinem Assistenten und macht Karriere als Bürgermeister. Den dem Wahnsinn verfallenden und später als Präsident die Rolle des Drachen übernehmenden Bürgermeister gibt mit beeindruckendem Körper- und Stimmeinsatz Jens-Bodo Meier.
In den Nebenrollen brilliert vor allem Elsas Freundinnentrio (Nina Doringhaus, Nele Heidsieck, Illana Bossert), das eleganten Trippelschrittes zwischen tränenseliger Jungmädchenromantik und abgestumpftem Sarkasmus hin und her wechselt. Optimal integriert waren auch „Bewegungsskulpturen“, Tanzeinlagen, die sich wie Leitmotive durch das Stück zogen und beispielsweise den Einzug des Drachen ankündigten, und auch die nie aufgesetzt wirkende musikalische Gestaltung verdient eine besonders lobende Erwähnung.
Lanzelot jedenfalls fordert den Drachen und die Bürger wollen ihn weghaben, denn man hat sich eingerichtet. Der Drache hetzt via Heinrich Elsa auf den unbequemen Herausforderer mittels Giftdolch zu ermorden. Doch aus dem willigen Opfer elsa macht die Liebe eine Heldin: Sie widersetzt sich. Hier die einzige offensichtliche Schwäche des Textes von Schwarz: Die alte Regel besagt, dass, so man eine Waffe in die Handlung einführt, sie auch benutzt werden muss. Der Dolch jedoch fliegt einfach achtlos in die Ecke. Ein bedauernswerter Motiv-und Strukturholperer.
Stattdessen müssen zwei Kinder (bühnensicher: Sebastian Görsch und Miriam Schuster), die ein paar Mal als Joker die Handlung anschubsen müssen, auch hier eingreifen und die längst vergessenen Waffen der Altvorderen aus dem Hut zaubern.
Kurz und gut: Der Drache stirbt, nicht ohne, dass Heinrich als Live-Pressesprecher den Luftkampf in bester Propagandamanier kommentiert. Auf den kurzen Freudentanz folgt die Machtübernahme durch den plötzlich mental gesundeten Bürgermeister, der sich als Held des Tages stilisiert und sich statt des verschwunden und vielleicht gar getöteten Lanzelot als Held feiern lässt.
Am ende des Stückes steht die Erkenntnis, dass es nicht genügt, einen Diktatur oder eine Diktator zu beseitigen: „In jedem von ihnen muss der Drache getötet werden.“ Das ist eine Erkenntnis die in Tagen, wo der eine oder andere Sportbegeisterung und Völkerverständigung in fairem Wettkampf mit dem Bad in Alkohol und dem Grölen alter Parolen verwechselt eventuell eine Erkenntnis, die es festzuhalten gilt.
Die Freie Waldorfschule Vaihingen jedenfalls hat den Ausbruch aus dem engen Kreis der Klassenspiele (die natürlich für Talentnachschub sorgen) mit Hilfe des russischen Regisseurs Vladislav „Slava“ Rozentuller, der an der Freien Hochschule Stuttgart (einem Waldorf-Lehrerseminar) lehrt, geschafft. Das Projekt kam auf Initiative der SMV zu Stande und integrierte Schüler, Lehrer, Eltern und interessierte Bürger auf und hinter der Bühne für symbolische sieben Wochen intensiver Probenarbeit und zwei Aufführungen. Die Qualität des Schauspiels und der Regie lässt für Schule und Stadt hoffen, dass dem Projekt wie geplant weitere unter dem Etikett „Kunst macht Schule“ folgen werden.
(Das hier abgebildete Buch ist nicht das besprochene Stück.)
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