Donnerstag, 20.10.2016 | 15:06 Uhr

Autor: rwmoos

Lena Sander: Zersetzt

Zersetzt

Zum Beispiel Pfefferminztee.
Den gab es schon in der frühen Eisenzeit. Das war die Zeit, als der Konjunktiv erfunden wurde. Reste von eisenzeitlichen Legenden behaupten, Pfefferminztee würde beruhigen. Also solle man ihn in sensiblen Romanen dann einsetzen, wenn die Heldin (in diesem Zusammenhang sind immer Frauen die Helden) in einer verständnissinnigen Umgebung weile.
Konjunktiv und Pfefferminztee sollen uns nun durch diese Rezension begleiten.

In der Rahmenhandlung von „Zersetzt“ klopft nämlich die Journalistin Julia derart stürmisch und penetrant an die Tür ihrer Psychotherapeutin, dass die, obwohl offenbar gerade aus dem Bett geholt, nicht umhin kann, sie hereinzubitten und auf eigenes Verlangen in Hypnose zu setzen. Nur so, glaubt Julia den Anschluss an ihre eigene Geschichte zu finden, die sie zu Ende bringen will, aber eben nicht weiß wie. Sie hat den Faden verloren.
Gedacht gesagt, gesagt getan. Die willige Psychotherapeutin handelt nach Fremdwunsch. Julia erzählt in Hypnose prompt die ganze Geschichte – die wir dann sozusagen aus dem Off des Behandlungszimmers miterleben dürfen.

Es geht um Prothesen. Die Autorin, Lena Sander, versteht nicht, dass zwar Arzneimittel in umständlichen Verfahren von einer eigens geschaffenen Stelle zugelassen werden müssen, nicht aber Implantate und Prothesen. Für Letztere reicht das CE-Zeichen, das man von jedem besseren Spielzeug kennt. Das aber – so zeigt unsere Romanheldin – kann man auch von Instituten erlangen, die schon deshalb windig sind, weil sie in Osteuropa firmieren. Darum herum entspinnen sich Mord, Totschlag und das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit.

Nun ist das mit den Stoffen, aus denen Prothesen und dergleichen gebaut sind, wirklich nicht unproblematisch. Der Fall des französischen Arztes, der seinen Patientinnen minderwertige Brustimplantate einsetzte, die dann richtig Probleme machten, geisterte ja erst unlängst durch die Medien. Und wie körpereigene Enzyme auf bestimmte Zuschlagstoffe reagieren, die den eingesetzten Metallteilen bei härteren Prothesen beigemengt wurden, um sie noch haltbarer zu machen, zeigt sich oft erst nach Jahren der Praxis. Die Medizintechnik entwickelt sich. Neue Produkte bergen immer auch neue Risiken. Die abzuschätzen ist auch bei wirklich sorgfältiger Prüfung nicht immer möglich – es sei denn man startet Langzeitversuche. Aber mit wem? Menschen? Kommt gar nicht in Frage! Affen? Ist auch nicht so toll. Wie also soll dann die eingeklagte Prüfstelle entscheiden, ob ein Produkt wirklich auch auf Dauer schadlos im menschlichen Körper mit seinen Zigtausend wechselwirkenden chemischen Prozessen verwendet werden kann? Ich weiß es nicht.
Frau Sander schlägt die Einrichtung einer Prüfstelle analog zu der von Arzneimitteln vor.
In meinen Augen machte solch eine Prüfstelle einerseits schon Sinn. Andererseits verteuerte sie alle Produkte und meine Krankenkassenbeiträge haben die Grenze zum Jenseits von Gut und Böse schon längst überschritten. Und wer sagt, dass eine deutsche Prüfstelle weniger korrupt sei, als ihr osteuropäisches Pendant? Wahrscheinlicher ist, dass sie auch nur eines wäre: Teurer. Schließlich sind andere korrupte Gestalten aus Frau Sanders Roman ebenfalls sowas von deutsch!

Wie so oft: Ein Problem wird gut dargestellt. Ein Konjunktiv ist aber keine Lösung.

Doch die Idee: Das Problem, das ich in der Gesellschaft erkenne, nicht per Leserbrief oder Skandalartikel in die Öffentlichkeit zu bringen, sondern einen Roman darum herum zu kreieren … diese Idee ist wirklich gut. Und um dieses Lob in den richtigen Stellenwert zu hieven, sollte der geneigte Leser dieser Rezension, sich eine kleine Pause gönnen und vielleicht einen Pfefferminztee …?

Wegen besagter tollen Grundidee, der profilierten Schreibweise und dem gut dargestellten inneren Anliegen der Autorin liest man den Roman gern, obgleich seine Schwächen durchaus offenbar liegen: Da wäre in erster Linie die Komposition als solche. Ein bisschen wie aus einem Computerprogramm für Krimi-Schreiber: Man nehme: Einen irgendwie abgewrackten Detektiv (natürlich kein richtiger, das wäre altbacken). Statt dessen am Besten einen Beruf, in dem der Autor sich auch ein bisschen auskennt. Eine amouröse Beziehung, die sich irgendwann in den Fall verwebt, kann auch nicht schaden. Dazu ein paar osteuropäische Gestalten für den Hinter- respektive Untergrund. Ein Computergenie noch – schließlich sind wir in #Neuland. Und dann natürlich einen korrupten Politiker.
Überhaupt: Das kennt man ja vom „Tatort“: Die Bösen sind entweder Unternehmer oder Politiker. Einerseits sollten diese Berufsgruppen sich fragen, warum solche Klischees immer ziehen. Andererseits befeuern solche fiktionalen Charaktere natürlich auch zu Unrecht jene Klischees.

Tja, und dann wären da noch die zahlreichen Schnipsel, die an der Glaubhaftigkeit zehren. Da wäre der Besitzer einer Autowerkstatt, dessen Tochter nicht etwa gegen den Alten rebelliert. Sie liebt und unterstützt ihn nach Kräften. Im Gegenzug lässt sie sich gern von ihm eine viel zu teure Wohnung finanzieren. Aber dennoch fährt sie eine alte Karre. Die wiederum ist nicht etwa ein Kultauto, was ja wieder verständlich wäre. So bleibt nur die Mutmaßung, dass die alte Kiste im Programm für abgewrackte Detektive (Menüpunkt „weiblich“) stand und dort angeklickt wurde. Dann wäre da noch der schlamperte Kollege, dessen erfolgreiche Verkleidung als Geschäftsmann uns unglaubhaft erscheinen mag. Für ein paar Osteuropäer aber hat’s gereicht. Oder der Hacker, der die Zerstörung seiner hochgerüsteten Computer-Zentrale für ein paar Pizzas einfach so in Kauf nimmt. Und wer jemals an einem Verkaufsprospekt mitgearbeitet hat, wird auch kaum verstehen, dass jemand solch einen Profi-Prospekt für lau erstellt, nur weil er jemandem einen Gefallen schulde.

Oder der Pfefferminztee.
Seine Zubereitung braucht Zeit und Aufmerksamkeit. Wenn also die Therapeutin einen solchen zubereitet hat, während die Klientin in Hypnose lag, kann das nur eines bedeuten: Sie hat währenddessen nicht zugehört.
Möglicherweise fehlen uns deshalb auch ein paar Schnipsel von Julias Erinnerung, die die Story glaubhafter gestaltet hätten.
Dann wäre alles so schön geworden …

Reinhard W. Moosdorf
Tüchersfeld Oktober 2016

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