Der meisterhafte Roman von Erich Loest hat mich – noch aus dem Abstand von 40 Jahren – aufgewühlt. Wie in einem Druckkessel verdichtet er Lebensverhältnisse Mitte der 70er Jahre in Leipzig zu beklemmenden Bildern und Szenenfolgen. Sein Ich-Erzähler Wolfgang Wülff, eher ein Anti-Held, ist Ingenieur in einem “Volkseigenen Betrieb” (VEB) mit den zu jener Zeit überall in der DDR-Mangelwirtschaft üblichen Problemen. Er ist fast genau mein Jahrgang, 1949 geboren, verheiratet, lebt mit Frau und vierjährigem Töchterchen in einem Plattenbau im Leipziger “Oktoberviertel”. Zur Einheitswohnung haben sie den Einheitstrabbi, und dieses Leben ist ziemlich genau, was mir seinerzeit als Alptraum erschien. Nicht dass es mir an Respekt vor den “Werktätigen” gemangelt hätte: Allein die Aussicht, mich als funktionierendes, gar parteitreues Rädchen ins Gestell zu fügen, passte weder zu meinem Wissensdurst und Freiheitsdrang noch zu meiner Lebensgier. Zu meinen Freunden und Bekannten gehörten freilich Ingenieure wie dieser Wolfgang: Hilfsbereite, humorvolle, familienorientierte Männer. Impulse jugendlichen Aufbegehrens hatten sich oft – wie bei Wülff – nach Konflikten mit der Staatsgewalt zu hartnäckigen Traumata verknotet, aber ich bin den “gelernten DDR-Bürgern” niemals so nahe gekommen wie Erich Loest, wenn er Wülff erzählen lässt. Kein Wunder, dass das Buch trotz Behinderungen durch die Zensur im Osten ein Renner war.

Wülffs allzu normales Leben erscheint darin wie mit dem Retro-Virus der Verweigerung infiziert: Der 26jährige möchte gern in Ruhe gelassen werden, nicht aufsteigen in der sozialistischen Wirtschaftshierarchie, nicht zu den “Bestimmern” gehören. Er kümmert sich lieber um sein Töchterchen, seine Mutter, die kriselnde Ehe von Freunden. Seine geliebte Frau Jutta legt diesen Mangel an Ehrgeiz als Trägheit aus, und als er wegen Beleidigung eines Kaders vor Gericht landet, bestraft wird, weil er dessen sadistische Erziehungsversuche in einer Schwimmhalle “faschistisch” nennt, ist es um die Ehe geschehen.

Wie Loest Wülffs inneren Aufruhr in Sprache verwandelt, ihn allein in der Einsamkeit an einem Mecklenburger See, beim Hören einer Sinfonie Bruckners im Gewandhaus auf seiner Seelenwanderung begleitet, das holt dieses “Rädchen” im sozialistischen Getriebe endgültig aus der Anonymität. Am Ende verliebt er sich – in eine Alleinerziehende. Das ist kein Happyend, aber einer jener Hoffnungsfunken des Jahres 1977, die das Ende der DDR vorwegnahmen. Der Staat wurde seinen Bürgern längst nicht mehr gerecht, Rudolf Bahro hatte es im selben Jahr gnadenlos analysiert, die DDR war schon fast bankrott. Mir bleibt nur zu wünschen, Erich Loests Mühen um die deutsche Einheit würde auch künftighin dadurch belohnt, dass viele diesen Roman lesen. Die ihn gelesen haben, werden kaum zulassen, dass es in Deutschland noch einmal seinen – sozialistischen – Gang geht.

Erich Loest
Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene
Roman, Mitteldeutscher Verlag, 294 S., geb.
ISBN 978-3-86152-021-4