Samstag, 23.11.2019 | 00:20 Uhr

Autor: rwmoos

Karen Dionne: Die Moortochter. Hörbuch, gelesen von Julia Nachtmann

Wege aus dem Paradies

Die Moortochter

Ein gutes Hörbuch ist ein bisschen wie beamen: Zusammen mit einer passablen Flasche fränkischen Bieres verkürzt es die langen Stunden der Autofahrten gewaltig – und ehe man sich versieht, ist man schon am nächtlichen Ziel angelangt.

Hakan Nesser zum Beispiel. Einige Sachen von ihm haben mir mehrere tausend Kilometer ins Nichts aufgelöst. Hakan beam me up!
Andererseits hat er auch Sachen geschrieben wie das jüngst gehörte „Himmel über London“. Um da die Stunden nicht zu spüren, bräuchte man deutlich mehr Alkohol. Schwierig, wenn man aufpassen muss, dass man sich immer knapp unterhalb jener 0,3 Promillegrenze bewegt, die einen im Unfall-Fall den Versicherungsschutz kosten würde.
Da schreibt der Mann Seiten über Seiten. Auch der Vorleser müht sich redlich – und dann merkt man, dass der ganze Roman viel schneller in zwei alternierenden Kurzgeschichten über einen Barbier zu erledigen gewesen wäre, die Herr Nesser in das letzte Viertel der sich ewiglang dahinziehenden Altherrenerzählung als Story in der Story durchaus gewinnbringend zu erzählen weiß.

Die Frau, die mich im realen Leben einerseits liebt, mir andererseits gern auf den Solarplexus haut, steckt mir vor der nächsten Fahrt zum Trost zwei neue Hörbücher zu: Die „Känguru-Apokryphen“ von Marc-Uwe Kling und „Die Geschichte der Bienen“ von Maja Lunde.
Herrn Klings Werke zu kommentieren, erübrigt sich: Was man sich einverleibt, kann man nicht mehr rezensieren. Da fehlt der Abstand. Meine achtjährige Tochter, die mich gerade begleitet (weswegen ich auf Alkohol verzichte), bringt es so auf den Punkt: „Ich will das Känguru sein!“

Doch dann steht die nächste Fahrt mit Maja Lunde statt meiner Tochter und Herrn Kling an. Normalerweise halte ich ja aus Prinzip auch Sachen durch, die mir nicht sonderlich gefallen. Bei der Lundalen Bienengeschichte aber muss ich passen. Das Ganze ist wohl nur was für BuchhändlerInnen mit großem Binnen-I und Wohlstandsgrüne, die keine Ahnung von Natur und Technik haben, sich aber – wie weiland Helmut Markwort formulierte – „meinungsstark und faktenarm“ offenbar recht erfolgreich durchs Leben schlawinern.

Genervt lasse ich die Scheibe aus dem CD-Schacht direkt auf die Fußmatten fallen, steuere meinen Prius, der ja ab und an auch ein wenig Benzin zum Leben braucht, an die Autobahntanke und suche dort nach dem nächstbesten Hörbuch. Die angebotene Literatur ist nicht gerade anspruchsvoll. Aber abgesehen von den ganzen Frauen-Büchern im Brigitte-Charme, lässt sie sich sicher gut weghören. Ich greife zu:
Ein Krimi, genauer: ein Psycho-Thriller. Laut Klappentext. Egal. Hauptsache das Beamen klappt.

Und dann nimmt mich eine Geschichte gefangen, die mit ihrer Vielschichtigkeit so nicht erwartbar gewesen war: Die Geschichte von der Tochter des Moorkönigs (The Marsh King‘s Daughter).

Ein Ojibwe (wer’s nicht weiß: das ist ein Angehöriger eines Stammes indianischer Ureinwohner aus dem Gebiet der Großen Seen) beschließt, mit seiner künftigen Familie das Leben wie seine Vorfahren fernab der Zivilisation zu verbringen. Ein leerstehendes Haus findet sich dort. Eine Frau raubt er sich von einem feindlichen Stamm, nämlich von den Weißen. Die beiden bekommen ein Kind, das nun isoliert vom Rest der Welt aufwächst.
Während sich der Mann seinen Lebenstraum verwirklicht, ist es ihm offenbar egal, dass er damit die Träume der Frau zerstört hat. Er allein weiß, was richtig und falsch ist und scheut auch nicht davor zurück, diese Sicht mit roher Gewalt durchzusetzen.
Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Aber dies ist nicht die Geschichte des Mannes. Es ist erst recht nicht die Geschichte der Frau. Es ist die Geschichte der Tochter.

Einerseits wächst sie völlig naturverbunden auf. Andererseits kennt sie aus den wenigen Erzählungen ihrer Mutter, den noch rareren Bestätigungen ihres Vaters und ein paar Dutzend im Haus aufgefundener, längst veralteter National-Geographic-Heften durchaus die Welt „da draußen“. Jene Welt, die für uns die „normale“ Welt ist.

Einerseits ist sie fasziniert von ihrem Vater, dem sie in inneren und äußeren Belangen wie ein kleiner Schatten folgt.
Andererseits beginnt sie langsam zu verstehen, dass ihrer Mutter, die sie wegen deren Schwäche eigentlich gar nicht für voll nimmt, bitteres Unrecht geschehen ist.

Unterdessen reift die inzwischen Elfjährige zu einer jungen Frau heran, die aufgrund der harten Schule ihres Vaters auch allein in der Wildnis zurechtkommt, Fährten lesen und Nahrung erbeuten kann und vor allem in der Lage ist, schnelle Entscheidungen zu fällen.

Als Tochter ihres Vaters wird sie ein vollwertiger First-Nations-Krieger. In unserem Kulturkreis würde man sagen: Eine junge Indianerin. Oder besser: Ein junger Indianer.
Als Tochter ihrer Mutter aber lernt sie abendländische Werte-Systeme, vermittelt über Märchen und Seufzer.

Sie wird sich dieses Zwiespalts immer bewusster, bis sie es irgendwann schafft, sich zumindest so weit von ihrem übermächtigen Vater zu lösen, dass sie eine Flucht schafft, auf der sie ihre halbtote Mutter mitnimmt.

Doch statt der erhofften Befreiung, gerät sie nun in die Fänge der Zivilisation, die mit einem Menschen wie ihr auch nicht recht etwas anzufangen weiß. Ein Deputy Sheriff, der sie bei ihren bald folgenden Ausreiß-Versuchen immer wieder einfangen muss, wird ihr da noch am Ehesten zum Vertrauten. Indes entpuppen sich die Großeltern als typische Amis, die lediglich die Geschichte von Tochter und Enkelin einigermaßen gut zu vermarkten wissen.

Die Mutter schafft den Schritt in ein neues Leben unter diesen Bedingungen auch nicht mehr wirklich und stirbt früh. Der Vater wird nach einigen Jahren, die er in der Illegalität verbringt, verhaftet und wandert lebenslänglich ins Gefängnis.

Unter diesen Bedingungen verstärkt sich wieder die innere Bindung der jungen Frau an den abwesenden Vater. Er, der sie doch eigentlich immer nur manipuliert hatte, ist der einzige Mensch, dem sie zumindest das Potential zubilligt, sie verstehen zu können.

So bleibt diese Bindungsfrage auch noch ungelöst, als sie sich bei Erreichung der Selbstständigkeit ein eigenes Leben aufbaut. Ihr Mann, ein Naturfotograf, und ihre beiden kleinen Töchter wissen nichts von ihrer Vergangenheit. Diese immanente Lüge wird sich später als Gift entpuppen, spätestens als ihr Vater aus dem Gefängnis ausbricht, seine Feinde tötet und zu einer Gefahr für die kleine Familie wird.

Die Tochter des Moorkönigs beschließt, sich dieser Gefahr zu stellen und jagt ihren Vater, indes dieser sie jagt. Doch aufgrund der alten Verwicklungen ist es nicht nur eine äußerliche Jagd – die eigentlichen Kämpfe finden in der Psyche statt …

Natürlich kann man ein solches Buch, das sich jeglicher Kategorie entzieht, als Psycho-Thriller bezeichnen. Unter dieser Rubrik verkauft sich derzeit Literatur offenbar recht gut. Andererseits weckt das auch Genre-Erwartungen, die das Werk nicht erfüllen will und kann.
Einige negative Rezensionen, die ich gelesen habe, sind schlichtweg das Ergebnis derart enttäuschter Erwartungshaltungen.
Da ich aber so gut wie keine Erwartungen hatte, ist es mir möglich, die Subtilität des Werks ein wenig neutraler zu würdigen.
Ja – es gibt ein paar technische und zeitliche Fehler. Die sind anderswo bereits zur Genüge benannt. Und ja – an einigen wenigen Stellen ist die Handlung nur schwer schlüssig. Da wirken die Übergänge doch ein wenig arg konstruiert.
Aber wenn man die Anlage des Romans begriffen hat – und ich unterstelle mir mal, dass ich das habe – dann kann man darüber hinweghören. Zumal an Julia Nachtmanns Vorlese-Kunst bei dieser Arbeit nichts, wirklich rein gar nichts zu bemängeln ist. Hier hat sich jemand richtig in die Geschichte hineingeschafft, bevor sie den Mund auch nur zur ersten Lese-Silbe auftat. Respekt!

Was aber an dem Werk selbst fasziniert, ist die kompromisslose Fixierung auf die Hauptperson. Indem alle Zeiten und Geschehnisse nur aus ihrer Ich-Perspektive erzählt werden, kann man diese schwierige und ungewöhnliche Entwicklung einer Doppel-Psyche miterleben. Und das, obwohl die Entwicklung zur wiedervereinigten selbständigen Persönlichkeit, die aus dem Schatten von anderen (und aus ihrem eigenen) heraustritt, über zwei Jahrzehnte umfasst und dabei in diskontinuierlichen Sprüngen mit jeder Menge Rückschlägen erfolgt.

Andere Rezensenten bemängeln auch das Fehlen von Dialogen und von ausgebauten Nebencharakteren, wie man es von den 0815-Thrillern kennt, die man sich sonst so reinzieht – aber genau das ist bei dieser stringenten Darstellungsweise von Haus aus eben gar nicht möglich.

Ich hingegen habe festgestellt, dass es Frau Dionne geschafft hat, mir drei bis vier Geschichten gleichzeitig zu entwickeln: Die Geschichte der Tochter, die sie tatsächlich erzählt. Das ist soweit klar. Aber parallel dazu entstanden in meinem Kopf sowohl die Geschichte des Vaters als auch die der Mutter. Ein Stück sogar die Geschichte des Ehemanns, der es schafft, der schwierigen und in Lügen verfangenen Person der Erzählerin zu einer weiteren Entwicklung zu verhelfen, indem er ihr Ausweg und Heimat zugleich bietet. Und zwar – das sei hervorgehoben – ohne sich dabei selbst zu verleugnen.

Ich möchte fast sagen: Indem die Protagonistin die Geschichten dieser drei wichtigen Personen eben nicht selbstständig ausführt, hatten diese drei so unterschiedlichen Menschen die Chance, ihre Version auch selbst darzulegen, wenngleich sie nur in meinem Hirn zu Wort kamen.
Ich wage zu vermuten, dass die Autorin genau dies beabsichtigt hat. Sie erzählt Dinge, die kulturell und politisch zu heikel anmuten, indem sie sie entstehen lässt, ohne sie selbst formuliert zu haben. Denn sie geht ja mit der Anlage der Story ein arg vermintes Feld an:

Es wird nämlich in dem Werk ziemlich deutlich, dass die Figur des „Edlen Wilden“, die seit Rousseau über Karl May, Lieselotte Welskopf-Henrich und manchem faulen Zweig der Eine-Welt-Bewegung gern durch unsere Köpfe geistert, auch auf der Soll-Seite gewaltige Posten aufweist:
Mikro-Diktaturen, Entrechtung von Frauen und Kindern, jede Menge Gewalt, Herabsetzung von Hemmschwellen zur Tötung durch angelerntes Jagdverhalten, Unfähigkeit zur frei bestimmbaren Liebe – um nur einige zu nennen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass das in den USA, in denen Quotendiskussionen auch in Bezug auf die First Nations, die, selbst steuerbefreit, inzwischen auf Kosten der Rest-Allgemeinheit respektablen Wohlstand aufgebaut haben, einige Irritationen hervorruft.
Gleiches gilt für die altreligiösen und neogrünen Zurück-Zur-Natur-Diskussionen.
Das Paradies war alles andere als paradiesisch. Erst indem er es verließ, brachte es der Mensch zu seinem Namen.

Leider vermisse ich bislang zumindest in der deutschsprachigen Rezeption des Werks jedwede Aufnahme dieser gewaltigen Denk- und Arbeitsleistung der Autorin.
Statt dessen wird bemäkelt, dass der Thriller nicht psycho genug und die Psychen nicht gethrillt genug seien. Nun ja. Das mag sogar richtig sein. Aber das betrifft im Wesentlichen wieder nur die Frage der Erwartungshaltung, die oben bereits gestreift wurde.

Vielleicht seien aber auch mir noch zwei kleine Mäkeleien gestattet:

Zunächst haut der deutsche Titel zielsicher daneben:
Aus „Die Tochter des Moorkönigs“ wurde „Die Moortochter“
Es geht aber in dem Werk eben nicht um ein Naturkind, eine Art Mowgli, auch wenn das vielleicht in den Augen des Verlags gerade en Vogue wäre.
Es geht um die Loslösung von einer übermächtigen schamanischen, ja, fast göttlichen Gestalt.

Des Weiteren mag das gleichnamige Hans-Christian Andersen Märchen, das als Leitfaden den einzelnen Kapiteln zwischengeschaltet ist, schon von Haus aus nicht zu den ganz großen literarischen Leistungen jenes namhaften Autors gehören. In der Kurzfassung, die Karen Dionne wiedergibt (oder auch vielleicht nur in der Kürzung der Hörspielfassung), wird das Märchen aber einiger wichtiger Aspekte beraubt.

Andererseits: Wenn die Protagonistin dem Märchen-Muster weiter gefolgt wäre – hätte sie dann ihren Über-Vater nicht nur gegen ein neues Über-Ich getauscht? Eventuell galt ja auch hier: Erst indem die Heldin die gezeichneten Schatten-Pfade verließ, wurde sie erwachsen.

Doch vielleicht sollte man da auch nicht zuviel in „Die Moortochter“ hinein-interpretieren.

Tüchersfeld, den 22.11.2019
Reinhard W. Moosdorf

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Ein Kommentar

  1. Karsten Schubert Says:

    Endlich mal eine Rezension, die nicht nur quasselt, sondern mitdenkt.

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